Das Brutale ist: Das Leben geht weiter»
ZSC-Crack Severin Blindenbacher Seit 317 Tagen hat der 37-Jährige kein Spiel mehr bestritten, das Karriereende naht. Um Sportlern den Übergang ins normale Berufsleben zu erleichtern, hat er mit Ex-Fussballer Beni Huggel das Athlete’s Network gegründet.
Simon Graf
Manchmal ertappt sich Severin Blindenbacher bei der Vorstellung, wie es wäre, wenn er nochmals auflaufen würde im ZSC-Dress. «Wenn ich am Fernsehen Spiele sehe, kommt sowieso wieder alles hoch», sagt der 37-Jährige. Aber dann hole ihn die Realität schnell wieder ein: «Solange ich mich so fühle, ist es leider noch zu früh, um über ein Comeback nachzudenken. Meine Gesundheit geht vor. Aber nochmals zu spielen, wäre cool und ist nach wie vor mein Ziel.»
Blindenbacher ist 37, war viermal Schweizer Meister, gewann WM-Silber und die Champions League, spielte in Schweden und Nordamerika. Er blickt auf eine reiche Karriere zurück, doch abschliessen kann er noch nicht. 317 Tage ist es her, dass ihn Langnaus Nolan Diem im Hallenstadion in die Bande checkte. «Am 14. Januar», sagt er. Das Datum hat sich ihm eingeprägt. Er macht Diem keinen Vorwurf, «es ist dumm gelaufen. Ich hatte sogar Glück im Unglück, dass ich etwas schräg zur Bande stand. Sonst wäre ich kopfvoran reingeknallt.»
«Extrem Mühe mit Licht»
Es war die siebte Gehirnerschütterung für den Zürcher, deren Folgen plagen ihn bis heute. «Ich habe extrem Mühe mit Licht», sagt er. «Es blendet mich schnell. Wenn ich in einen Laden gehe, bin ich danach völlig geschafft.» Blindenbacher absolvierte das Sommertraining separat, und als das Team aufs Eis ging, machte er diesen Schritt nicht mehr mit.
Er merkte, dass er noch nicht bereit war, sein Körper Warnsignale aussendete, wenn er sich im Off-Ice-Training ans Limit pushte. Er sagt: «Im Vergleich zu anderen mit sieben Gehirnerschütterungen geht es mir gut, aber an die Rückkehr aufs Eis ist momentan nicht zu denken.»
Eine solche schaffte er schon einmal nach einer längeren Pause. Am 17. Oktober 2017 hatte er in der Ilfishalle die sechste Gehirnerschütterung erlitten und fiel er für den Rest der Saison aus. Den Steigerungslauf zum ZSC-Titel 2018 erlebe er als Zuschauer. Im folgenden August gelang ihm der Wiedereinstieg. Er etablierte sich wieder als Stammkraft in der ZSC-Abwehr und war im letzten Winter unter Rikard Grönborg so gut unterwegs, dass er im November 2019 nochmals einen Einjahresvertrag erhielt.
Das Treffen mit Beni Huggel
Während seiner ersten längeren Abwesenheit hatte Blindenbacher, der sich für vieles begeistert, zwei Tage die Woche bei der Laufschuhfirma On geschnuppert. Etwa im Eventmarketing. Es gefiel ihm, aber er merkte auch, was für ein Privileg es ist, Profisportler zu sein. Und dass der Übergang ins normale Berufsleben kein einfacher ist. Darüber referierte er im vergangenen Herbst im Berufsinformationszentrum Oerlikon, das (angehende) Sportler darauf sensibilisiert, wie man Sport und Ausbildung vereinen kann.
Im Publikum sass der Ex-Fussballer Beni Huggel, die beiden kamen danach ins Gespräch. Dabei entwickelten sie die Idee eines sportartenübergreifenden Projekts, um Sportlern den Übergang ins Berufsleben zu erweitern. Später stiessen HR-Mann Dave Heiniger und der Skifahrer Niels Hintermann dazu, im Frühjahr dieses Jahres gründeten die vier die Firma Athlete’s Network. Inmitten der ersten Corona-Welle in der Schweiz. Inzwischen betreiben sie ein Büro an der Zürcher Löwenstrasse.
Die Problematik ist nicht neu, die neue Organisation will sie nun ganzheitlich angehen. Blindenbacher erklärt: «Wir versuchen, alle zu vereinen: aktive und ehemalige Sportler, die Clubs, Verbände, potenzielle Arbeitgeber und Bildungspartner, Stiftungen, das ganze Ökosystem.» Zudem soll es zweimal im Jahr zum Erfahrungsaustausch kommen an einem «Athlete’s Day». Der erste fand Anfang Oktober im Kursaal Bern statt mit Referenten wie dem früheren FCB-Präsidenten Bernd Heusler, der im März zurückgetretenen Skifahrerin Tina Weirather und natürlich Huggel und Blindenbacher.
«Das Schlimmste ist, wenn du mit 38 aufhörst und daneben gar nichts gemacht hast», sagt der ZSC-Verteidiger. Er ist nicht mehr bei On tätig, dafür absolviert er nun in einem 50-Prozent-Pensum ein Praktikum bei der Zurich Versicherung in der Personalentwicklung. «Es ist spannend, in einen grossen Konzern hineinzublicken», sagt er. Das Engagement kam über die Kontakte des Athlete’s Network zustande.
Prominente Partner
Jene Sportler, die in ihrer Karriere mehr verdient hätten, seien tendenziell weniger gut vorbereitet auf die Zeit danach, sagt Blindenbacher. Man müsse zum einen Athleten frühzeitig sensibilisieren fürs normale Berufsleben, zum anderen Kontakte zur Wirtschaft herstellen. «Wir Sportler haben zwar mangelnde Arbeitserfahrung, dafür bringen wir Qualitäten mit, die nützlich sind: wie Disziplin, Resilienz, Fokus, Eigenverantwortung, Leidenschaft, Teamorientierung.»
Die neue Firma, die in den sozialen Medien und punkto Webpage sehr professionell daherkommt, hat bei den Clubs schon einige prominente Partner gefunden, wie die ZSC Lions, den SCB, den EVZ, im Fussball YB, den FCB und den FC St. Gallen oder die Handballer der Kadetten Schaffhausen. Zudem haben sich rund 180 Athleten eingeschrieben, was noch nichts kostet. Erst wenn man eine Dienstleistung in Anspruch nimmt wie eine Standortbestimmung, muss man das Portemonnaie zücken.
Das Gespräch ist fast vorbei, als es Blindenbacher nochmals auf den Punkt bringt: «Das Brutale ist: Das Leben geht nach der Karriere weiter, und niemand hat auf dich gewartet. Der Übergang ist viel schwieriger, als man mit 25 meint. Aber das Schöne ist: Man darf eine Karriere machen und dann nochmals etwas völlig Neues angehen.»
Was das bei ihm sein wird, weiss er noch nicht. Ein Standbein hat er schon.