Der Trump des Schweizer Eishockeys
Im Playoff genügt es nicht mehr, einfach Eishockey zu spielen. Das haben die ZSC Lions erneut erfahren. Es ist kein Zufall, dass jeder der vier Halbfinalisten seine Aufwiegler hat.
Wie sich die ZSC Lions ruhmlos aus der Saison verabschiedeten, erinnerte ich mich unweigerlich an eine Szene, die ich vor 40 Jahren erlebt hatte. Ich spielte für die Winnipeg Jets in der NHL-Konkurrenzliga WHA, und Ken Linseman (Kosename «Die Ratte») von den Birmingham Bulls löste gegen uns wieder einmal eine Schlägerei aus. Neben mir stand das alte Schlachtross Ted Green, fünffacher Stanley-Cup-Sieger und späteres Mitglied der Ruhmeshalle, und sagte zu Linseman: «Das Einzige, was du kannst, ist, Gegner hinterrücks zu attackieren und dich dann hinter euren Prüglern zu verstecken.» Linesman konterte: «Ja. Aber das Einzige, was dein Team kann, ist Eishockey zu spielen!» Das sass.
Wieso erzähle ich das? Weil Eishockeyspielen das Einzige war, was die ZSC Lions gegen Lugano tun wollten. Und das reicht meistens nicht. Ja, die Lions entwickelten Intensität, sie hatten mehr Puckkontrolle, mehr Schüsse, waren oft schneller im Sprint um den Puck, aber den Kampf, der wirklich zählt, verloren sie: jenen auf der Anzeigetafel. Wie konnte das passieren? Lugano schöpfte seine Mittel gekonnt aus und hatte jene Zutat, die den Zürchern fehlte: einen Provokateur, der sein Team inspirieren und den Gegner von seinem Spiel abbringen konnte. Maxim Lapierre ist ein Meister seines Fachs – der Donald Trump des Schweizer Eishockeys.
Zuerst markieren, dann siegen
So wie Trump in eine Verhandlung mit viel Gepolter und Aggression steigt, startete Lapierre die Viertelfinalserie: indem er die Zürcher bei jeder Gelegenheit herausforderte und einschüchterte. Er wollte für sein Team eine physische Überlegenheit etablieren, sodass das Spiel (bei Trump: die Verhandlung) nach seinen Regeln ablaufen würde. Und je länger die Serie dauerte, desto mehr konzentrierten sich Lapierre und seine Luganesi darauf, Spiele zu gewinnen. Sie überstanden den Zürcher Sturmlauf, indem sie sich vor jedes Stück vulkanisierten Gummis warfen, das sie sahen. Ich habe noch nie so viele geblockte Schüsse gesehen wie in dieser Serie.
Verblieben sind vier Teams, die alle über Spieler verfügen, die beim Gegner Aufruhr stiften können. Ich freue mich besonders auf das Duell zwischen Berns Thomas Rüfenacht und Lapierre. Zwischen den beiden gibt es einen feinen Unterschied: Lapierre geht sehr kalkuliert und intelligent zu Werke. Er weiss genau, was er tut und wieso. Rüfenacht reagiert eher auf spezifische Situationen. Er kennt seine Rolle und sticht gerne ins Wespennest, aber er ist nicht so berechnend wie Lapierre. Beide sind Brandstifter. Sie entfachen ein Feuer, hoffen, dass es sich ausbreitet – und verschwinden. Entscheidend wird sein, wie die Teams mit den Bränden umgehen.
Nothelfer Greg Ireland hat Lugano ein Defensivsystem à la NHL verpasst, bei dem die Gegner in der Offensivzone zur Seite gedrängt werden. Das wird es den talentierten SCB-Stürmern schwer machen, in gute Abschlusspositionen zu kommen. Elvis Merzlikins wird mit seinem Butterfly-Stil alle flachen Schüsse abwehren und auch die meisten hohen. Es wird oft aussehen wie ein Berner Powerplay, und ein Cowboy könnte die ums eigene Tor versammelten Tessiner locker auf einmal mit dem Lasso einfangen. Doch das ist im Eishockey ja bekanntlich nicht erlaubt.
Ich glaube nicht, dass die Berner den gleichen Fehler begehen wie die Lions, fast alle ihre Energie in der Offensivzone verschwenden. Sie werden konservativ spielen, die neutrale Zone verstellen und auf schnelle Gegenstösse lauern. Ich erwarte eine lange und körperbetonte Serie und tippe auf Bern in sieben Spielen.
Viele Experten dachten, der EV Zug würde von den kräftigen und schmutzig aufspielenden Servettiens vom Eis gefegt. Das Gegenteil passierte. Die Zuger demonstrierten eine kollektive Härte, die von ihnen niemand erwartet hatte – ich auch nicht. So zerstörten sich die Genfer am Ende selber. Der HC Davos wird das nicht tun. Denn er kann einen nicht nur physisch einschüchtern, sondern auf viele andere Arten. Wenn es beim HCD stimmt – und das scheint derzeit der Fall zu sein –, kann dieses Team das ekligste, gnadenloseste Eishockey der Liga spielen.
EVZ: Nicht um die Wette laufen!
Die Davoser können dich mit ihrem Tempo überfordern. Sie können aber auch sehr hart spielen. Und sie lassen nie nach. Wenn du eine Welle überdauert hast und wieder aufgestanden bist, kommt schon die nächste. Das HCD-Forechecking hat nicht nur zum Zweck, den Puck zu erobern, sondern auch, dem gegnerischen Verteidiger wehzutun. Dieser Mix von Talent und Härte stellt den EVZ vor eine grosse Herausforderung. Wie können die Zuger damit umgehen?
Ihr grösster Fehler wäre es, zu versuchen, mit den Davosern um die Wette zu laufen. Sie müssen das Tempo verlangsamen und Auge um Auge, Zahn um Zahn zurückschlagen. Keiner ihrer harten Jungs, Timo Helbling und Johann Morant, ist ein klassicher Aufwiegler. Aber sie werden in diese Rolle schlüpfen müssen. Wenn es die Zuger schaffen, die Spiele möglichst lange ausgeglichen zu halten, haben sie eine Chance auf den Favoritensturz. Den Favoritensturz? Ja, das wäre es, obschon die Davoser auf Rang 5 landeten und Zug auf Rang 3. Denn so stark schätze ich den HCD ein. Mein Tipp: Die Bergler gewinnen in sechs Spielen.
Aber noch einmal zurück zu Ken Linseman. Er hatte recht mit seinem Kommentar, damals im Jahr 1977. Eishockey dreht sich um viel mehr als um Eishockey – vor allem im Playoff. Es läuft auf einen Kampf des Willens hinaus, und wie man auf Widrigkeiten reagiert. Wie man sich aufopfert. Wie die römischen Gladiatoren im Kolosseum. Es ist purer Darwinismus, und daran sehe ich nichts Falsches. Das ist es doch, was diesen Sport so faszinierend macht.
(Tages-Anzeiger) - Kent Ruhnke
Erstellt: 20.03.2017, 23:29 Uhr, http://www.tagesanzeiger.ch/sport/hockey/d…/story/12485012