Espresso (Fredy Wettstein) Fred

  • Espresso Von Fredy Wettstein
    Ballpoet

    Seit vielen Jahren schon treffen sie sich jeden Montagmorgen um acht in einem Café im Zürcher Seefeld, zufällig sind sie sich hier einmal begegnet. Und seither trinken sie immer einen Espresso zusammen, meistens sind es zwei oder drei, die Gipfeli weisen sie schnöde von sich, bis sie zuletzt doch meistens eines nehmen, und sie reden fast immer nur über eines, den Sport. Bruno, der 59-jährige Werber mit seinen ergrauten Haaren, Luca, der Architekt, einige Jahre jünger.

    Diesmal ist es anders. Sechs Wochen haben sie sich nicht gesehen, Bruno hatte eine Auszeit genommen, auf einer einsamen Insel, «mein Trainingslager für den Kopf» nennt er es. Er ist an diesem Montag schon um halb acht im Café, vor sich einen grossen Stapel mit Zeitungsausschnitten, er ist vertieft, zerknüllt immer wieder eine Seite, manchmal auch ungelesen, weil es ihn offenbar nicht mehr interessiert, und um acht, er ist immer fast auf die Sekunde pünktlich, kommt Luca durch die Tür, breitet die Arme aus und ruft schon von weitem: «Und?!»

    Luca will eigentlich wissen, wie es war auf der einsamen Insel und wie Bruno seinen Kopf trainiert hat, dieser winkt aber ab, möchte nicht darüber reden, sondern sagt sofort: «Luca, fass mir zusammen, was sportlich passiert ist in diesen Wochen.» Luca lacht, «ich bin sicher, du weisst schon alles, mich interessiert viel mehr, was ist dir geblieben, nachdem du jetzt alles nachgelesen hast? Sport ist doch immer nur Gegenwart, was gestern war, ist heute unwichtig und überholt. Was blieb dir aber haften, beim Schnelldurchlauf von sechs Wochen Sport? Und frag mich nicht nach dem aktuellen Trainer von Sion, hier habe ich die Übersicht auch längst verloren, diese Namen, auch wenn es immer wieder die gleichen sind, kann man sich gar nicht mehr merken.»

    Bruno durchwühlt seinen Papierberg neben dem Espresso auf dem Bistrotisch und findet die Seite rasch, «hier, schau», er zeigt ihm die Seite 40 in seiner Lieblingszeitung, Ausgabe vom 13. Oktober, und deutet auf das Matchtableau vor dem Spiel San Marino gegen die Schweiz. «Lies mal, da stehen die Namen der elf Sanmarinesen, und statt wie üblich der Club, in dem sie spielen, ist ihr Beruf aufgeführt, Kleiderverkäufer, Hilfsarbeiter, Apotheker, Barbetreiber oder Magaziner. Das ist doch genial.»

    Luca, der Architekt, der sich gerne an Fakten hält, staunt. «Das interessiert dich? Ob einer nach dem Spiel wieder Möbel packt oder vielleicht in seiner Bar einen Ramazzotti ausschenkt, verheiratet ist oder frisch getrennt und was er zuletzt für einen Film im Kino gesehen hat? Hast du dich auf deiner Insel vom Sport entfernt?»

    Bruno unterbricht ihn. «Sicher nicht», und er erzählt, dass er am Sonntag im Stadion gewesen sei, beim Zürcher Fussballderby, er holt einen Zettel aus seiner Vestontasche hervor, zeigt diesen Luca, «73:49 Minuten!» steht drauf, «ich habe es mir sogleich aufgeschrieben.» Und Bruno beginnt zu schwärmen: «Von weit weg ist der Ball geflogen gekommen, direkt zu ihm, auf seine Brust, er hat ihn zärtlich in Empfang genommen, als sei er ein rohes Ei, der Ball und er sind verschmolzen, und wie von einem Magnet geführt, ist er den langen Körper entlanggeglitten, ganz runter auf seine Füsse, die haben ihn sicher geküsst», ein Bild für Götter sei es gewesen.

    Luca schüttet beinahe seinen Kaffee aus, will wissen, ob er noch unter zu viel Inselsonne leide.

    Bruno lächelt: «Yassine Chikhaoui, Ballpoet», das müsste bei ihm als Berufsbezeichnung stehen.

    Luca: «In meiner Zeitung stand aber, er sei diesmal sehr unauffällig gewesen.»

    Bruno: «Manchmal lohnt es sich eben, wegen nur einer Sekunde ins Stadion zu gehen.»

    «Espresso» ist eine Kolumne von Fredy Wettstein, die ab heute jeden Dienstag erscheint.

  • Espresso Von Fredy Wettstein
    Tomatito und Demut

    Luca, der Architekt, wollte seinem Freund Bruno, dem Werber, eigentlich zuerst Skizzen eines neuen Projekts zeigen, doch er kommt gar nicht dazu. Bruno, seinen Espresso ständig in der Hand balancierend, redet drauflos und schwärmt. Sein Spiel sei genial gewesen, und am Ende habe es eine Standing Ovation gegeben, die Zuschauer seien aufgestanden und hätten sich gar nicht mehr gesetzt, minutenlang nur geklatscht. «Du hättest das sehen müssen, mit welcher Hingabe er gespielt hat, mit welcher Leidenschaft und Lust. Einfach brillant, grossartig, und . . .»

    Luca will ihn unterbrechen, fragt zögerlich: «Von wem redest du? Von Federer?» Aber Bruno, und er redet so laut, dass die am Nebentisch im Café im Zürcher Seefeld ihre Zeitung beiseite legen, hört die Frage gar nicht.

    «Seine Technik ist atemberaubend, er spielte so variantenreich, wir waren alle hingerissen und haben nur auf ihn geschaut und . . .»

    «. . . Bruno, bitte sag, von wem du redest.»

    «. . . und du hättest seine Fingerfertigkeit sehen müssen, wie virtuos er spielte, er sei ein Meister der komplizierten Zartheit, hat einmal jemand über ihn geschrieben.»

    Luca kennt Bruno gut und weiss, dass dieser gerne die poetischen Seiten des Sports sucht, aber diesmal ist er ratlos, schaut ihn verständnislos an und fragt: «Finger? Wo warst du?»

    Bruno erzählt von einem Konzertabend im Kaufleuten, einer «Flamenco Night» mit Tomatito, dem «Tomätchen», von dem er vorher noch nie gehört habe, der Spanier mit den langen Haaren sei ein Star dieser Szene, auf der ganzen Welt gefragt, und während seines Gitarrenspiels habe er oft an Arjen Robben gedacht und . . . «. . . an Robben?» «. . . ja, an Robben, tags zuvor hatte er doch in Rom wieder so wunderbar gespielt, und an Shaqiri.» Luca: «Flamenco, Robben, Shaqiri?» Bruno versucht zu erklären. Tomatito sei im Kaufleuten mit einem Ensemble aufgetreten, und der neben ihm, viel jünger, habe ihm geglichen, und er habe nachgefragt beim Konzertveranstalter, und es sei tatsächlich sein Sohn gewesen, er habe an diesem Tag sogar seinen 17. Geburtstag gefeiert. Er sei, heisst es, noch talentierter als sein berühmter Vater. «Aber du hättest sehen müssen, mit welch bewundernden Blicken er jeweils zu seinem Vater geschaut hat, mit welcher Demut.» Am Ende des Konzerts habe er auch einen Soloauftritt gehabt, die Scheinwerfer seien nur auf ihn gerichtet und der Applaus nachher frenetisch gewesen, aber sogleich habe er mit einer Geste seinem Vater gedankt und ihn mit leuchtenden Augen angesehen.

    Jetzt versteht Luca, was Bruno ihm sagen will. «Du denkst, auch Shaqiri müsste manchmal demütiger sein, dankbar, dass er die Möglichkeit hat, überhaupt bei Bayern spielen zu dürfen, und nicht immer wieder gleich davon reden, dass er mit seiner Situation nicht zufrieden sein könne.»

    «Genau. Und weisst du was, Luca? In diesen Tagen, als ich Federer und sein magisches Spiel bewunderte, habe ich auch an dich gedacht. Vor gut einem Jahr, da sind wir doch ebenfalls hier gesessen, und du hast über Federer gelästert, er sei doch langsam zu alt und zerstöre seinen Mythos, und er solle aufhören. Und du hast den ‹Guardian› erwähnt, der habe geschrieben, jede Presskonferenz von Federer gleiche dem Vorlesen eines Testaments. Ich habe dir damals gesagt, wir sollten demütiger sein.»

    Luca hört gar nicht mehr zu. Er liest seine Zeitung. Alles über Federer.


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    fredy.wettstein@tages-anzeiger.ch.

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