Da realisierte ich erst: Ei, ei, ei, war ich kaputt gewesen!»
Es war lange still um Arno Del Curto (65), seit er sich vom Eishockey abwandte. Nun spricht er über seinen Abgang in Davos, sein neues Leben und was er am meisten bereut.

Simon Graf
Publiziert heute um 16:32 Uhr
«Am Stammtisch ist es einfach, zu sagen: ‹Der soll jetzt aufhören!›» Arno Del Curto ist im Reinen mit sich selbst.
Foto: Ela Çelik
Bald erscheint Ihre Biografie mit dem Titel «Mit Köpfchen durch die Wand». Ich hätte einen alternativen Titelvorschlag gehabt: «My Way», wie einst Frank Sinatra sang. Was machte Sie zum erfolgreichsten Eishockeytrainer in der Schweiz?
Eben, dass ich es auf meine Weise gemacht habe. Das Eishockey in der Schweiz zu verändern, war in den Neunzigerjahren nicht so einfach. Vor allem nicht für einen Schweizer. Aber ich war fanatisch. Ich wollte die ganze Hockeywelt kennen lernen. Wie machen es die Russen? Die Finnen? Die Tschechen? Die Schweden? Die Kanadier? Die Amerikaner? Ich reiste überallhin. Alpo (Suhonen), den ich in der Schweiz kennen gelernt hatte, öffnete mir alle Türen. Ich war sogar bei (Wiktor) Tichonow. Daraus kreierte ich meinen eigenen Mix. Nachdem ich beim ZSC entlassen worden war (1993), konnte ich meinen Stil erproben: zuerst mit der Junioren-Nationalmannschaft, dann mit dem Erstligisten SC Luzern. Ich sah schnell, dass er erfolgreich sein würde. Denn er hatte alles: Tempo, Zug aufs Tor, körperlich hart spielen, eingespielte Spielzüge, Technik, und, und, und.
Das ist die Eishockeyseite. War Ihr Umgang mit den Spielern nicht mindestens so wichtig?
Kürzlich schickte mir jemand ein Video mit einem Interview mit Chris McSorley (dem Coach Luganos). McSorley sagte da, er müsse heute ganz anders führen als vor 20 Jahren. Er müsse sich mehr mit den Spielern abgeben, mehr von ihrem Privatleben wissen und spüren, wenn sie etwas bedrückt. Das machte ich von Anfang an so. Ich habe Menschen gern. Ich bin eigentlich eher ein zu lieber Mensch. Wenn ein Spieler ein Problem hatte, setzte ich mich intensiv mit ihm auseinander, bis es wieder gut war. Dafür rannte er dann auch für mich, wenn ich es von ihm verlangte.
Zuckerbrot und Peitsche?
Das trifft es für mich nicht. Ich war nur hart mit den Spielern im Training. Da erwartete ich eine Stunde, eineinhalb Stunden höchste Konzentration und Hingabe. Und ab und zu war ich hart während eines Spiels, wenn einer immer die gleichen Fehler machte. Da musste ich ihm manchmal klipp und klar sagen, was er tun muss. Aber nur im Training und im Match musste es stimmen, ansonsten war ich butterweich mit den Spielern.
Wie nahe liessen Sie sie an sich heran?
Sehr nahe. So spürte ich sie, lernte aber auch viel von ihnen. Das Einzige, was ich vom Eishockey vermisse, ist, dass ich nicht mehr so viele junge Menschen um mich herum habe. Ihre Unbekümmertheit, ihre Trends in der Mode, in der Musik, ihr Slang, das gefiel mir brutal. Das sog ich zu 100 Prozent auf. Deshalb bin ich heute noch ein Kindskopf.
«Ich habe in Davos den Abgang ganz klar verpasst. Das passiert aber vielen. Angela Merkel, Joachim Löw, Arsène Wenger.»
War der Prozess des Schreibens Ihrer Biografie, zusammen mit der Autorin Franziska K. Müller, auch eine Form der Verarbeitung für Sie?
Nein. Darum ging es nicht. Aber klar, ich habe Fehler gemacht. Ich habe in Davos den Abgang ganz klar verpasst. Das passiert aber vielen. Angela Merkel hat es auch falsch gemacht, Joachim Löw ebenfalls. Arsène Wenger bei Arsenal auch. Wahrscheinlich kann man das gar nicht richtig machen. Man sagte mir schon nach dem (zweiten) Titel 2005, ich solle jetzt auf dem höchsten Punkt aufhören. 2007 wieder, 2009, 2011. Dann kam 2015 noch ein weiterer Titel dazu und es folgte mein schönstes Jahr, 2016, als wir im Europacup den Halbfinal erreichten. Das war für mich das absolute Highlight. Die Interviews, die ich danach auf Englisch gab, vollgepumpt mit Adrenalin, obschon ich nicht so gut Englisch spreche (lacht). Ich hatte Spass wie ein Sechsjähriger, der zu Weihnachten eine Skiausrüstung bekommen hat. Zum Glück hatte ich vorher nicht aufgehört, sonst hätte ich das nicht mehr erlebt. Aber im folgenden Jahr merkte ich, dass ich gehen sollte.
Arno Del Curto im Hoch: Sein Kult-Interview auf Englisch nach dem Sieg über Skelleftea.
Quelle: Youtube
Wieso haben Sie es nicht getan?
Ich wollte gehen. Aber dann machten wir untereinander ab: Machen wir weiter bis zum 100-Jahr-Jubiläum (2021). Rückblickend weiss ich, dass ich in meinem letzten Davoser Jahr (2018/19) kaputt war. Irgendwann war es zu viel geworden. Es war immer mehr dazugekommen, und ich hatte immer Ja gesagt, weil ich ein blaugelbes Herz hatte. Triffst du bitte den, der möchte noch in den Club investieren. Und so weiter. Am Schluss war ich nur noch am «Seckeln» und vernachlässigte die Mannschaft. Ganz klar. Wäre ich normal fit gewesen, hätte ich das noch zurechtbiegen können. Aber ich hatte die Kraft nicht mehr.
Wie äusserte sich das?
Wenn du eine Mannschaft führst, musst du Spass und Energie in die Kabine bringen. Das ist das Entscheidende. Das konnte ich nicht mehr. Aber weil ich so kaputt war, realisierte ich es gar nicht. Ich war wie apathisch. Heute bin ich wieder fit. Aber ich könnte diese Energie nicht mehr in die Kabine bringen, wie ich es 40 Jahre getan habe. Du musst völlig daran glauben, was du sagst und was du tust. Davon darfst du keinen Millimeter abweichen. Sonst geht es sofort in die andere Richtung.
Immer im Herzen: Die Davoser Fans mit einer rührenden Choero für Arno Del Curto im Februar 2019.
Foto: Jürgen Staiger (Keystone)
Am 27. November 2018 traten Sie beim HCD zurück, nach über 22 Jahren. Das war ein Erdbeben im Schweizer Eishockey. Was war in den Tagen zuvor in Ihnen vorgegangen?
Ich hatte in den letzten acht Wochen beim HCD immer wieder mit Vizepräsident Robert Lombardini gesprochen. Ich sagte: «Röbi, es stimmt nicht mehr.» Er sagte: «Komm, das schaffen wir noch.» In der darauffolgenden Woche kam ich wieder. Zu ihm oder zu jemand anderem. Am Stammtisch ist es einfach zu sagen: ‹Der soll jetzt aufhören!› Doch wenn du drinsteckst, hast du noch tausend andere Gedanken. Ich glaube, ich würde es nochmals falsch machen.
«Es tut mir weh für die ZSC-Fans, dass ich ihnen nicht das liefern konnte, was sie von mir erwartet hatten.»
Mitte Januar 2019 sprangen Sie gleich ins nächste Abenteuer und übernahmen als Nothelfer die ZSC Lions. Der Rummel um Sie war riesig. Bei Ihrem ersten Spiel in Langnau war eine Kamera den ganzen Abend lang nur auf Sie gerichtet …
Und wenn du dir diese Bilder anschaust, siehst du: Ich war völlig kaputt. Ich schaute sie mir später einmal an. Ich war völlig in einer anderen Welt. Tags darauf im Hallenstadion versuchten wir, ein bisschen mehr nach vorne zu spielen, die Fans flippten aus. Es tut mir weh für die ZSC-Fans, dass ich ihnen nicht das liefern konnte, was sie von mir erwartet hatten. Es tut mir leid. Denn die ZSC-Fans sind auch geniale Fans.
Auf Schritt und Tritt verfolgt: Arno Del Curto bei seinem Intermezzo bei den ZSC Lions.
Foto: Melanie Duchene (Keystone)
Sie verpassten mit den ZSC Lions im letzten Qualifikationsspiel in Genf das Playoff. Haben Sie sich manchmal überlegt, was gewesen wäre, hätten Sie jenes Spiel gewonnen?
Zum Glück haben wir es verloren. Nein, ich muss es so sagen: zum Glück für mich. Für Zürich war es schlecht. Vielleicht hätten wir ein gutes Playoff gespielt. Wer weiss. Wir hatten tolle Typen und viele gute, sehr gute Spieler. Es wäre schon möglich gewesen, dass sie noch erwacht wären. Aber nicht nur ich war angeschlagen, auch die Mannschaft war es. Das muss man schon sehen. Ach ja, etwas kommt mir noch in den Sinn.
Bitte.
Wir waren bei Walter Frey (ZSC-Präsident) zu Hause, um den Vertrag zu unterschreiben. Da sagte er mir: «Herr Del Curto, was wir hier machen, ist nicht gut für uns. Und auch nicht gut für Sie.» Als alles vorüber war und ich mich von ihm verabschieden wollte, sagte ich: «Sie haben recht gehabt.» Er hatte es gespürt.
Wie erholten Sie sich, nachdem es vorbei war bei den ZSC Lions? Verreisten Sie auf eine einsame Insel?
Nein, ich war zu Hause, ganz normal. Ich las, machte nicht viel. Und plötzlich spielte sich der ganze Film vor meinen Augen ab. Da realisierte ich erst: Ei, ei, ei, war ich eineinhalb Jahre lang kaputt gewesen!
«Man sagt ja, man müsse den Körper trainieren. So trainiere ich auch mein Gehirn. Ich hoffe, das hält mich länger jung.»
Wie ging es für Sie weiter?
Ich begann, mich mit meinem neuen Leben zu befassen. Mit dem Buchprojekt. Ich half jemandem, Redner auszubilden. Und dann traf ich Marcel Niederer, und da kam unser Projekt in Arosa auf: der Wiederaufbau des Posthotels mit 30 Suiten mit dreieinhalb Zimmern. Viele Leute waren da dran gewesen, aber die Frau aus Malaysia, welcher der Boden gehörte, gab uns den Zuschlag. Niederer ist ein Geschäftsmann vom Scheitel bis zur Sohle. Von ihm habe ich innert Kürze alles gelernt. Man sagt ja immer, man müsse den Körper trainieren. So trainiere ich auch mein Gehirn. Ich hoffe, dass mich das länger jung hält.
Sehen Sie Parallelen zwischen der Businesswelt und Ihrer früheren Rolle als Coach?
Du kommst bei beiden mit Menschen zusammen und musst diesen gegenüber eine gewisse Empathie haben. Du spürst in den Gesprächen, wo der andere hinwill. Wenn du das gut kannst und Sozialkompetenz hast, hilft das. Aber natürlich sind die Abläufe ganz anders. Im Eishockey musst du immer den nächsten Match gewinnen. Wenn du einmal verlierst, ist schlechtes Wetter. Wenn du zweimal verlierst, ist Krise. Wenn du dreimal verlierst, tobt ein Hurrikan. Die Leute schauen dich nach einem schlechten Drittel schon anders an. Im Geschäftsleben siehst du nach einem Jahr, ob du gut gearbeitet hast oder nicht. Und dann hast du ein Jahr Zeit, um es zu korrigieren, wenn du Fehler gemacht hast. Im Eishockey musst du sofort eingreifen.
Ein unerfüllter Traum vieler Schweizer Hockeyfans ist Arno Del Curto als Schweizer Nationaltrainer. Wieso kam es nie dazu?
Weil mein Herz zu sehr für den HCD schlug. Wir waren einmal nahe dran, dass ich beides hätte machen können: HCD-Coach und Nationaltrainer. Aber dann wollten sie nicht. Und das Daily Business war mir viel, viel lieber. Wenn du eine solche Leidenschaft hast wie ich, hast du keine Lust, alle drei Monate einen Match zu coachen. Zudem hätte ich mich als Nonkonformist sehr stark anpassen müssen, was ich nicht gern getan hätte.
Aber eine Krawatte haben Sie sich ja inzwischen umgebunden.
(lacht) Einmal, ja. Wenn ich eine Krawatte tragen muss, trage ich halt eine. Das ist doch mir egal. Aber ich fühlte mich wohler, wenn ich sportlich angezogen war, wie jetzt.
«Als ich das sah, sagte ich mir: Was warst du für ein Riesendummkopf, dass du nicht nach Sankt Petersburg gegangen bist!»
Kürzlich coachten Sie beim IIHF-Kongress in Sankt Petersburg die Weltauswahl gegen eine russische Auswahl. 2010 wären Sie ja fast in Sankt Petersburg gelandet. Kam Ihnen das nochmals in den Sinn?
Eine ganz gute Frage! Die muss ich jetzt auch ehrlich beantworten. Ich sah den Mann, der mir einen Vertrag angeboten hatte. Ich sah, wie René Fasel in Russland verehrt wird. Ich sah, wie die Russen das Eishockey verehren. Ich hatte das Gefühl, nach Putin kommen da punkto Popularität alle Eishockeyspieler und -trainer. Ich sah die Stadt, wie unheimlich sauber und schön sie geworden war. Was für ein jugendliches Flair sie hatte. Ich war letztmals vor 20 Jahren da gewesen. Als ich das alles sah, sagte ich mir: Was warst du für ein Riesendummkopf, dass du da nicht hingegangen bist! Es war völlig falsch. Ich werde mir nie verzeihen, dass ich damals Nein gesagt habe. Vor allem, wenn ich sehe, wie dann mein Abschluss in Davos war. Und wäre ich nach Sankt Petersburg gegangen, wäre mir das auch nicht passiert mit dieser Erschöpfungswelle. Dort wäre ich nur für die Mannschaft zuständig gewesen.
Ihr Sohn Yannick ist inzwischen auch Eishockeytrainer. Seit zwei Jahren ist er Assistent bei der U-17-Elite der ZSC Lions, die letzte Saison Meister wurde. Geben Sie ihm ab und zu Tipps?
Nein. Ich habe so oft erlebt, wie Eltern ihren Kinder dreingeredet und damit viel kaputtgemacht haben. Ich sagte zu Yannick einmal: «Ich würde es nicht tun.» Nehmen wir an, er wird einmal in der Nationalliga B oder A coachen, er würde unweigerlich mit mir verglichen. Es kann sein, dass das für ihn nicht gut wäre. Aber er hat Freude daran. Und wenn er mich fragt, gebe ich ihm logischerweise einen Tipp. Aber er fragt mich nicht oft. Wir reden über ganz andere Dinge. Bei Viktor (Ignatiev, dem Headcoach) lernt er viel. Der ist auch einer, der die Jungen laufen lässt. Das finde ich gut.
Wie eng verfolgen Sie zurzeit das Eishockey?
Ich habe eine Zeit lang gar nicht mehr geschaut. Im Frühling abonnierte ich die NHL-App, weil ich Joe Thornton mit Toronto schauen wollte. Leider sind sie im Playoff früh ausgeschieden. Dann dachte ich: Wenn ich schon bezahlt habe, schaue ich mal einen anderen Match. Zum Glück tat ich das. Ich schaute Colorado gegen Vegas. Da war alles drin! Ein so geiler Match! Wie Colorado spielte! Und wie Vegas zeigte: Heute habt ihr gewonnen, aber so kommt ihr nicht durch! Danach schaute ich das Playoff fertig bis zum letzten Match. Ich habe dem Eishockey nie abgeschworen, aber ich hatte nach so vielen Jahren einfach einmal genug gehabt. Und wenn das so ist, sollte man sich das auch eingestehen können.