Usem Tagi:
Der kleine Löwe will unbekümmert sein
Am Samstag beginnt das Abenteuer für den Club, der 37 Jahre zweitklassig war und der grosse Aussenseiter in der Super League ist. Ausgerechnet Alex Frei kommt mit Basel zu Besuch.
Der Moment hat schon fast etwas Ergriffenes, als Andreas Mösli das Wort ergreift. Im kleinen Presseraum, den es auf der Schützenwiese zwar schon lange gibt, der aber nie wirklich benutzt worden ist, steht er da und sagt in die Runde: «Das ist historisch. Es ist die erste Pressekonferenz, seit ich hier bin.»
Zwanzig Jahre ist Mösli jetzt beim FC Winterthur, der frühere Punkrocker und Journalist. In dieser Zeit hat er dem Club ein Gesicht gegeben (Stichwort: «Friede. Freiheit. Fussball») und ist selbst zum Gesicht geworden. Die Haare des 57-Jährigen sind kürzer und grauer geworden, er will kürzertreten und sich nur noch um die Kommunikation des Vereins kümmern. Ganz so wenig ist das nicht, weil vieles neu ist. Statt der gewünschten 60 arbeitet er weiterhin 100 Prozent.
«Wir sind dann mal oben!» hat der Club zum Motto gemacht, nachdem er sich am 21. Mai mit einem Sieg in Kriens den Aufstieg gesichert hatte. Und weil er mal oben ist, feiert er an diesem Mittwochnachmittag eine Premiere und richtet eine Pressekonferenz aus. Mösli hat dafür Sportchef Oliver Kaiser aufgeboten, den neuen Trainer Bruno Berner und Captain Granit Lekaj.
Das Stadion mit einer Seele
Auf einem Nebenplatz trainieren Junioren, Handwerker sind im Stadion unterwegs, um es den Bedürfnissen der Super League anzupassen. Zwei hohe Türme stehen neu neben der Haupttribüne, damit die Kameras für den VAR ihren Platz haben. Sie sind klobig, passen nicht zum Bild der Schützenwiese und behindern zum Teil die Sicht der Zuschauer auf den Platz.
Wenigstens ist alles andere noch da, die Bierkurve, die Sirupkurve, der Salon Erika, Gagarin, die alte Matchuhr, die Stehplätze, die Libero-Bar – all das eben, was diesen Ort ausmacht. Als Mösli beim FCW als Geschäftsführer einstieg, hiess es noch: «Ach, die Schützi! So eine Katastrophe! Alles fällt auseinander!» Inzwischen sagt er: «Solche alten Stadien haben eine Seele.»
Wenn der FCW am Samstag gegen den FC Basel in die neue Saison geht, sind die 8400 verfügbaren Plätze ausverkauft. Die 8400 reichen für einen stimmungsvollen Rahmen, weil hier alles kompakt ist. Oder wie es Bruno Berner sagt: «Das Stadion hat fast einen englischen Touch.»
Mösli geht davon aus, dass die Heimspiele bis in den Winter ausverkauft sein werden. Die Leute wollen halt einmal auch andere Gegner sehen, nicht immer nur Thun, Wil oder Stade Lausanne-Ouchy. Mit dem Reiz des Neuen ist auch die Herausforderung verbunden, sich auf ungewohntem Gelände zu behaupten. Der FCW ist kein Spitzenclub mehr, sondern der erste Anwärter auf Platz 10.
Oliver Kaiser, der Sportchef, mag mit solchen Prognosen nichts anfangen, er sei kein Fan davon, sagt er. Lieber will er darauf setzen, dass sie alle ihre Arbeit richtig machen. Damit sie am Ende vielleicht sagen können, die Experten oder Journalisten hätten sich geirrt. Kaiser gibt den Optimisten: «Ich bin felsenfest überzeugt, dass wir eine gute Rolle spielen.»
Berner tut sich weniger schwer mit den düsteren Erwartungen, was die sportliche Zukunft bringen wird. «Letzte Saison war der FCW national die Nummer elf», hält er fest, «jetzt fangen wir auf Platz 10 an.» Nur heisst das lange nicht, dass sie gleich die weisse Fahne schwenken. Sie wollen sich Spieltag für Spieltag «ufechräsme», so sagt er das, langsam nach oben klettern.
Lekaj endlich am Ziel
Die Euphorie ist gross um den Verein, seit er im Frühjahr angefangen hat, an der Rückkehr in die höchste Liga zu arbeiten. 37 Jahre war er weg von der Spitze gewesen, lange 37 Jahre für den Club aus einer Stadt, die zwar im Schatten von Zürich steht, aber immerhin die sechstgrösste des Landes ist. Jetzt sagt Captain Lekaj: «Ein Traum ist in Erfüllung gegangen.» Das gilt gerade für ihn, weil ihm dieser Club so viel bedeutet und gar zu einer Heimat geworden ist.
32 ist der stämmige Innenverteidiger inzwischen. 337 Spiele hat er in der Challenge League bestritten, was die zweithöchste Zahl in dieser Liga ist. Am Samstag kann er endlich in die Super League eintauchen. Und das erst noch gegen den Trainer, dem er das zu einem wesentlichen Teil zu verdanken hat. Alex Frei kehrt mit Basel auf die Schützi zurück, wo er ein halbes Jahr der Trainer war, der mit seiner Siegermentalität und Geradlinigkeit voranging.
«Mir ist egal, wer auf der anderen Seite Trainer ist», wirft Lekaj ein. Grösser scheint seine Vorfreude auf das Wiedersehen mit Davide Callà zu sein, Callà sei ein Captain gewesen, wie er nie einen sonst gehabt habe, sagt er, «er war komplett. Schade, dass er ging.» Callà folgte Frei im Sommer als Assistent nach Basel.
Den Wunschkandidaten für die Nachfolge Freis hatte Kaiser schnell auserkoren. Berner ist für ihn gar der «perfekte Trainer». Was der 44-jährige Glattbrugger mitbringt, ist recht viel. Da ist die fachliche Expertise, seine auch als TV-Analytiker gezeigten kommunikativen Stärken, seine Erfahrungen als Spieler in der Bundesliga und der Premier League wie auch als Trainer beim SC Kriens. Dass er als bodenständig gilt, hilft in einem Umfeld wie in Winterthur, um Akzeptanz zu gewinnen.
Vier Jahre trainierte er die Krienser, bis 2021. Zuerst stieg er mit ihnen auf, dann hielt er sie drei Saisons lang trotz sehr bescheidener Mittel in der Challenge League. Beim FCW ist nun alles ein, zwei Nummern grösser, das ändert jedoch nichts daran, dass er finanziell der Kleine ist in der Super League.
Mit einem Budget von 11 Millionen Franken liegt er weit hinter der Konkurrenz, die 1. Mannschaft kostet weniger als die Hälfte davon. Neun Spieler sind abgegeben worden, unter ihnen Roberto Alves, der feine Spielmacher, und Sayfallah Ltaief, als Flügelstürmer die Entdeckung der letzten Rückrunde. Alves zog es in die polnische Provinz, Ltaief nach Basel. Fünf Spieler sind neu, zum Beispiel der weit gereiste Florian Kamberi für den Sturm und von Sion Timothy Fayulu fürs Tor. Kaiser selbst ist zufrieden mit seiner Arbeit. «Wir haben uns verstärkt», sagt er, «da bin ich sicher.»
24 Stunden überlegte sich Berner, ob er die Arbeit als U-19-Trainer beim Schweizer Verband aufgeben und nach Winterthur wechseln will. So lange? Seine Frau habe schon noch etwas dazu zu sagen gehabt, sagt er mit einem breiten Lachen. Was ihn am neuen Arbeitsplatz reizt, ist die «Gesamtkonstellation». Ein Punkt sticht dabei heraus: «Ich kann so richtig unbekümmert an die Aufgabe herangehen.»
Das Versprechen Berners
Die Erwartungen sind an anderen Standorten zum Teil viel grösser, gerade in Basel, Bern und Zürich, auch in Lugano, Genf oder St. Gallen. Das kann dem FCW helfen, mit der Enttäuschung von Niederlagen umzugehen, der Rückhalt bei den Fans kann dabei ebenso ein entscheidender Faktor sein. Der Trainer will Niederlagen vorbeugen, indem er von seinen Spielern fordert, dass sie «nicht mit gebückter Haltung» auftreten: «Wir gehen raus und getrauen uns etwas. Wir wollen etwas wagen.»
Das vertikale Spiel hat es ihm angetan, der schnelle Pass in die Tiefe. Gleichzeitig weiss er, dass seine Mannschaft Druckphasen aushalten und überstehen muss, mehr als in der Vergangenheit. Mit Blick auf Lekaj, der zwei Stühle neben ihm sitzt, sagt er darum: «Granit, als Verteidiger kannst du dich freuen. Da kannst du dich so richtig, richtig auszeichnen.»
Der Löwe ist das Wappentier des FCW. Im Gang, der von den Kabinen auf den Platz hinausführt, ist das Licht düster. An die Wände sind zwei grosse Köpfe von Löwen gesprüht. Sie blecken ihre Zähne. Als wollten sie den Gegner das Fürchten lehren und die Schützenwiese zu einer kleinen Festung machen.