Aus der NZZ
Morddrohungen und
Schmähgesänge
In den Play-offs fallen im Umgang mit Schiedsrichtern weitere Tabus. Die
Eishockeywelt scheint in einer Zeitkapsel gefangen zu sein. Von Nicola Berger
Die Entschädigung für einen
Headschiedsrichter im Play-off
beträgt 920 Franken. Übelste
Beschimpfungen und Drohungen gibt es extra.
Vor knapp zwei Wochen erreichte die Schiedsrichterabteilung von Swiss
Ice Hockey eine E-Mail, in der unter anderem
steht: «Euch sollte man nur noch in den Kopf
schiessen.» Gegen den Verfasser ist inzwi-
schen bei der Kantonspolizei Zürich Straf-
anzeige erhoben worden.
Die Morddrohung ist kein Einzelfall. In un-
schöner Regelmässigkeit sehen sich Offizielle
mit Nachrichten konfrontiert, die sprachlos
machen; die Rede ist von vier bis fünf Fällen
pro Monat. Vor drei Jahren nahmen die Behör-
den Gewaltandrohungen gegen einen Berner
Schiedsrichter so ernst, dass er an seinem
Wohnsitz unter Polizeischutz gestellt wurde.
Ein Schiedsrichter sagt: «So schlimm wie in
letzter Zeit war es noch nie.»
Die National League zieht pro Saison mehr
als zwei Millionen Zuschauer an, sie ist ein
Schweizer Kulturgut, das in den urbanen Zen-
tren von Zürich und Genf ebenso funktioniert
wie in der Peripherie, in Ambri, Pruntrut und
Langnau. Sie ist ein verbindendes Element für
eine weisse Mittelschicht im Land.
Es gibt kein nennenswertes Gewaltprob-
lem, Ausschreitungen sind selten. Exzesse
wie die «Schande von Lugano» 2001, als ein
Mob eine geordnete Pokalübergabe an die ZSC
Lions in der Resega verhinderte, wirken wie
Reminiszenzen aus einem anderen Leben. Of-
fenkundig mangelt es im Dunstkreis der Liga
aber trotzdem nicht an hochproblematischem
Verhalten. Und regelmässig sind es die
Schiedsrichter, die darunter leiden.
Krudeste Verschwörungstheorien
Die Frage ist, wo man die Grenze ziehen will.
Ob erst bei Morddrohungen oder bei all den
anderen, vielfältigen verbalen Attacken. Das
beginnt bei Funktionären, welche die Schieds-
richter im Stadionumfeld mit Verbalinjurien
eindecken, im nächsten Atemzug aber von
«Werten» fabulieren, von Anstand und
Respekt. Beim Verhalten von Spielern wie
Benjamin Antonietti, einem Stürmer von
Genf/Servette, der am Freitag mit Gestik sug-
gerierte, die Referees seien blind. Antoniettis
Team führte zu diesem Zeitpunkt 5:1, es blie-
ben drei Minuten zu spielen.
Es gibt Trainer, die sich teilweise in krudes-
te Verschwörungstheorien verstricken, um
von ihren eigenen Unzulänglichkeiten abzu-
lenken. Oder Schiedsrichter weit unter der
Gürtellinie beschimpfen, so wie das der ZSC-
Trainer Marc Crawford im Februar getan hat,
der den finnischen Referee Mikko Kaukokari
«Schwanzlutscher» nannte. Und es geht wei-
ter bei der Wortwahl auf den Rängen.
Am Donnerstag läuft das erste Drittel zwi-
schen dem HC Davos und den ZSC Lions, Play-
off-Viertelfinal, als die Davoser Ostkurve nach
einem ihr nicht genehmen Schiedsrichterent-
scheid skandiert: «Am Schiri sini Mueter isch
e Maa», aus Hunderten Kehlen. Es ist ein Ge-
sang, der im Schweizer Eishockey Tradition
hat, in Zug etwa wurde jahrelang eine abgeän-
derte Version an den ZSC-Captain Mathias
Seger gerichtet. Es ist verblüffend, dass sich
bis heute, im Jahr 2023, nichts geändert hat.
Unter dem Deckmantel der Konvention wird
auf auffallend unoriginelle Weise Homopho-
bie zum Ausdruck gebracht. Man kann das
bagatellisieren und kleinreden, was die Vor-
fälle aber nicht appetitlicher macht.
Crawford ist für seine Entgleisung richtiger-
weise gesperrt und gebüsst worden. Die Frage
ist, wieso die Liga die Klubs in solchen Fällen
für das Verhalten ihres Anhangs nicht eben-
falls bestraft. Der Liga-Manager Denis Vaucher
wiegelt ab. Er sagt: «Bei vulgären Gesängen ist
es nicht möglich, die Anstifter eindeutig aus-
findig zu machen. Es wäre unverhältnismäs-
sig, für alle Beteiligten Kollektivstrafen auszu-
sprechen.»
Dann ergänzt er: «Wir greifen bei Gewalt,
Pyromanie, Sachbeschädigungen und Bier-
würfen konsequent durch und verhängen in
Zusammenarbeit mit den Klubs sofort Sta-
dionverbote. Allein in dieser Saison sind 92
Stadionverbote ausgesprochen worden. Die
Vereine sind zudem angehalten, gemeinsam
mit ihren Fan-Delegierten darauf hinzuwir-
ken, dass diskriminierende Gesänge mög-
lichst verhindert werden.»
Im Sommer werde das Thema im Rahmen
des jährlichen Weiterbildungskurses mit den
Fan-Delegierten und den Sicherheitsverant-
wortlichen behandelt, so Vaucher. Zielsetzung
im Sinne der Prävention sei es, eine noch hö-
here Sensibilisierung bei allen Beteiligten her-
beizuführen.
Es ist bemerkenswert, dass das nicht längst
geschehen ist. Doch der Davoser Klubpräsi-
dent Gaudenz Domenig hat eine entwaffnend
einleuchtende Erklärung dafür, er sagt: «Wir
wollen solche Äusserungen nicht tolerieren.
Aber bisher war die Haltung ein bisschen so,
dass die Klubs nicht so genau hinhören, was
eigentlich gesungen wird. Hauptsache, die
Stimmung ist gut.»
Der nächste Eklat ist nicht weit
Ein Teil des Reizes eines Stadionbesuchs be-
steht darin, Emotionen zu erleben, zu feiern
und zu fluchen. Man kann auf den Tribünen
Worte benutzen, die zu Hause nie fallen wür-
den. Aber es ist erstaunlich, wie viele Men-
schen vergessen, worum es sich beim Eisho-
ckey handelt: einen Sport, Showbusiness. Und
keine Angelegenheit, in der es um Leben und
Tod geht. Um Ruhm und Ehre vielleicht, um
Geld und Jobs. Doch es hat etwas Unwürdiges,
was sich in diesen Wochen abspielt.
Die Morddrohungen sind eine hässliche
Fratze, das nicht zu entschuldigende Ende der
Spirale. Aber wer mit verbalen Entgleisungen
stetig die Grenzen des Sagbaren verschiebt,
trägt eine Mitschuld. Ein Referee sagt: «Wir
führen jeden Sommer die gleichen Diskussio-
nen. Alle zeigen Einsicht und geloben Besse-
rung. Und am ersten Spieltag ist alles wieder
vergessen.» Das Play-off dauert noch knapp
einen Monat. Es wird einen Meister geben und
viele Enttäuschungen. Für die Schiedsrichter
bedeutet das die Gewissheit, dass der nächste Eklat nicht weit weg ist.