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Professor an der Côte
Als Lucien Favre im Sommer Trainer in Nizza wurde, löste das Verwunderung aus. Jetzt führt er nicht nur die Tabelle in der Ligue 1 an, sondern er hat auch Mario Balotelli stabilisiert. Von Christine Steffen, Nizza
Wenn Lucien Favre das Strässchen vom Trainingsgelände zur Route de Grenoble hinuntergeht, schaut ihm niemand nach. Er verschwindet unbemerkt im Gewusel an der verstopften Durchgangsachse. Hier ist sein Revier, Autobahnlärm, Baustellen, Billighotels, ein kleiner Markt mit wackligen Tischchen, auf denen Frauen mit Kopftüchern Früchte verkaufen oder dicke Pullover für den Winter. Folgt man der Route de Grenoble, kommt man zur Allianz Riviera, einem geschwungenen Koloss, der aber so luftig wirkt, als wäre er vom Himmel ins Vallée du Var am westlichen Rand der Stadt geschwebt. Zwischen diesen Orten und seinem Zuhause ausserhalb von Nizza bewegt sich Favre. Ob man ihn in der Stadt erkennen würde, weiss er nicht, er ist fast nie im Zentrum. Wer sich der Arbeit verschreibt wie er, interessiert sich nicht für die Wassertemperatur an der Côte d’Azur.
Als Favre im Mai im Olympique Gymnaste Club Nice, kurz le Gym, einen Vertrag bis 2019 unterschrieb, löste das in der Schweiz Verwunderung aus. Nach Hertha und Mönchengladbach war der grosse Schritt erwartet worden, Manchester hatte sich doch auch schon für Favre interessiert, warum also musste es dieser unscheinbare Mittelklasseklub sein?
So unerwartet sie kam: Die Wahl von Favre folgt der Logik früherer Entscheide. Er überraschte alle, als er nach den beiden Meistertiteln mit dem FC Zürich zur Hertha nach Berlin ging. Und als er 2011 mit Borussia Mönchengladbach einen Verein übernahm, der schon fast abgestiegen war und den alle für «kaputt» hielten, wie er sagt, sah es nach einem halsbrecherischen Abenteuer aus. Favre aber hat an beiden Orten das Potenzial gesehen, nicht die Gefahr. Er hat beide Klubs weitergebracht, bevor es zur Trennung kam. Favre sagt: «Es ist immer auch eine Frage des Zeitpunkts, welchen Verein man übernimmt. Es kann sein, dass eine Anfrage kommt, aber es unmöglich ist, zuzusagen, weil du noch unter Vertrag bist.» Man hört, dass sich im Winter auch Marseille und Lyon für ihn interessiert haben. In Frankreich zu arbeiten, sei neu für ihn und eine Herausforderung. Favre braucht das Wort immer wieder: Herausforderung. Und überhört man es beim ersten Mal, nimmt man es beim zweiten oder dritten Mal zur Kenntnis. Denn sie ist tatsächlich zentral für ihn.
Projekt vor Personal
Die Wahl seiner Klubs zeigt, dass der 58-Jährige die anspruchsvolle Aufgabe mit Perspektive dem Prestige vorzieht. Favre ist selbstbewusst, er ist es mit den Erfolgen in Deutschland geworden, aber er ist nicht eitel. Eine saubere Passfolge befriedigt ihn mehr als der Applaus der Massen. Und wenn ihn begeisterte Fans bestürmen, wie früher in der Stadion-Bar im Letzigrund, macht ihn das hilflos, nicht glücklich. Er ist ein Professor, kein Kumpel: Was für ihn zählt, ist die tägliche Arbeit, das Analysieren und Tüfteln, dieses fast nervtötend akribische Feilen an Details, die Suche nach Lösungen. Wenn ihn niemand kennt auf der Strasse, ist ihm wohl; in der Anonymität kann er sich auf die Arbeit konzentrieren.
Als ihn das französische Magazin «Le Point» kürzlich fragte, warum er sich zum Trainer berufen gefühlt habe, sagte er: «Drei, vier Jahre vor dem Karrierenende als Fussballer denkt man darüber nach, was nachher kommt. Ich habe angefangen, Junioren in Echallens zu trainieren, und fand das sehr bereichernd. Jeden einzelnen Spieler weiterzubringen, gefiel mir. Und das passt gut, denn es ist die Basis des Trainerberufs, jeden Spieler weiterzubringen.» So redet ein Chef, der die Grösse hat, sich nicht zum Zentrum der Welt zu machen – aber genau weiss, dass die Arbeit mit dem Einzelnen ihm Erfolg bringen wird.
Favre folgte in Nizza auf Claude Puel, der in der letzten Saison mit der Mannschaft im vierten Rang placiert war. Die Trennung von Coach und Verein verlief einvernehmlich, eine Seltenheit in diesem Geschäft. Puel war vier Jahre in Nizza, er war der erste Trainer des Präsidenten Jean-Pierre Rivère, eines lokalen Immobilienmagnaten, der 2011 gut zehn Millionen Euro in den Verein investiert und 51 Prozent der Aktien übernommen hatte. Seither rüstet der Klub auf; 2013 wurde die 245 Millionen Euro teure Allianz Riviera eröffnet, im nächsten Jahr folgt die Einweihung des neuen Campus. Diesen Sommer hat Rivère den Verein an ein chinesisch-amerikanisches Konglomerat verkauft, 20 Prozent der Aktien hat er behalten. Le Gym, dessen vier Meistertitel alle aus den 1950er Jahren stammen, hat Ambitionen. Aber er verfolgt sie nicht kopflos. Rivère, braungebrannt, silberhaarig, ein Mann, den man sich gut auf einer Jacht vorstellen kann, sagte nach dem Abgang von drei wichtigen Spielern vor der Saison und dem Trainerwechsel: «On peut changer les hommes, car le projet est plus fort que les hommes.» Das ist bemerkenswert, weil es im Fussball meistens umgekehrt ist: Jeder Trainer werkelt an seinem eigenen Projekt, bis der Erfolg ausbleibt und ein neuer Heilsversprecher es probieren darf. Dass sich die Trainer in eine Struktur einpassen und einer Idee unterordnen müssen, ist selten. Rivère will in Nizza technisch hochstehenden, schnellen Fussball sehen, er will eine Spielkultur, die auf allen Altersstufen bis zu den Profis gleich ist, er will, dass eigene Junioren gefördert werden oder Talente aus anderen Vereinen in Nizza wachsen. Es gebe nicht viele Trainer, die diese Vorgaben erfüllten, sagte er kürzlich. In Favre hat er den passenden erkannt.
In dieser Saison bewegt sich Nizza zwischen dem Aschenputtel früherer Jahre und der Prinzessin, die es werden soll. Nirgends wird das deutlicher als im Trainingszentrum an der Route de Grenoble. Der Maschendrahtzaun rostet, die Planen beim Platz flattern im Wind. Im Hof des Garderobentrakts steht verlassen ein roter Stuhl, daneben stapelt sich Sperrgut. Davor verteilt ein Mann mit drei Hündchen den Zaungästen Wasserflaschen, bis er in Aufregung ausbricht, weil er auf dem Rasen tatsächlich einen kleinen Skorpion entdeckt hat. Es ist nett hier, entspannt. Dann kommt Mario Balotelli. Eine Erscheinung aus einer anderen Welt, als hätte sich ein Superheld in einen Schrebergarten verirrt. Wie alle anderen muss er an den Kiebitzen vorbei in die schäbige Garderobe. Er, der «Süpermario», wie sie ihn im Stadion besingen, muss sich in die familiären Verhältnisse einfügen. Er legt vor Ehrfurcht ganz stillen Kindern den Arm um die Schulter, er unterschreibt auf Leibchen. Er ist gross und ruhig und tut es mit der Geduld des Demütigen.
«Le sourire» von Balotelli
Dass Balotelli in Nizza ist, ist der Hartnäckigkeit von Rivère zu verdanken. Als er Mino Raiola, den Agenten Balotellis, erstmals anging, antwortete dieser nicht einmal. Zwei Monate dauerte es, bis Rivère ihn überzeugt hatte. Genauso unerschütterlich arbeitete er an der Verpflichtung Favres, ihn und keinen anderen wollte er nach dem ersten Treffen. Jetzt bilden Favre und Balotelli ein Paar, das auf den ersten Blick nicht zusammenpassen will. Eine Einschätzung, die der Trainer nicht teilt. Er sagt: «Wenn ich ein Problem habe mit jemandem, dann hat er viele Probleme mit anderen.» Dass Nizza die Tabelle anführt, liegt auch an den Toren von Balotelli. Favre lobt ihn, aber er sagt auch: «Er muss mehr laufen, mehr helfen in der Defensive, das wissen alle, auch er.» Er werde viel Zeit brauchen, bis Balotelli wieder ein Topspieler sei, aber er zeige sich lernwillig. Balotelli ist beliebt in der Mannschaft, nicht nur, weil er oft trifft, er habe immer «le sourire», sagt Favre.
In Nizza freuen sie sich an ihrem Fussballmärchen und an diesem Trainer aus der Schweiz, den sie erst jetzt so richtig entdecken, weil sie in Frankreich die Bundesliga kaum verfolgen. Favre ist nach Daniel Jeandupeux der zweite Schweizer Coach in der Ligue 1. Der Präsident wird nicht müde, zu wiederholen, dass Favre der beste Neuzugang des Sommers sei. Alle Trainer warnen vor überstürzter Begeisterung, Favre mit seiner vorsichtigen Art tut es besonders. Er erinnert daran, dass jedes gewonnene Spiel eng war, dass selbst beim 4:0-Sieg gegen Monaco eine Niederlage möglich gewesen wäre. Er sagt, jede Partie werde schwer. Er macht einen entspannten Eindruck, wie er da im winzigen Presseraum im Trainingszentrum sitzt, aber nie würde er über dem guten Start die grossen Zusammenhänge aus den Augen verlieren. Er sagt: «Es ist meine Aufgabe, die Mannschaft zu stabilisieren. Aber es ist schwierig, weil es immer wieder Abgänge gibt. Es ist immer wieder ein Aufbau, man muss immer wieder anfangen.» Vielleicht interessiert Lucien Favre ja genau das: das Aufbauen. Vielleicht ist es nicht nur der Zeitpunkt, der gepasst hat in Nizza, sondern auch die Möglichkeit, etwas zu erschaffen. Vielleicht interessiert ihn die Entwicklung stärker als die Verwaltung des Erfolgs in einem Spitzenklub.
Favre hat eine Vision vom Fussball, das schnelle Passspiel, aber auf ein System legt er sich nicht fest. Seine Mannschaften sollen alles können. Sie müssen sich nicht nur von Spiel zu Spiel adaptieren, sondern innerhalb einer Partie die Gestalt wechseln, als wären sie Barbapapas. Favre ist anpassungsfähig wie seine Teams; er ist in den Strassenschluchten von Berlin Velo gefahren, er war in Mönchengladbach, wo die Stadt unansehnlich ist, aber die Infrastruktur perfekt, er ist in Nizza, wo ein warmer Wind bläst und der Beton auf dem Campus bröckelt. Im Kern aber macht er überall das Gleiche: Spieler besser. Sogar Balotelli.
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