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Jetzt verdient er Millionen in der NHL
Sie mussten selber aufstehen und kochen – da war er in der 3. Klasse
Jonas Siegenthaler hat sich in New Jersey zu einem der solidesten NHL-Verteidiger entwickelt. Mit seinem 17-Millionen-Vertrag gilt er als Schnäppchen. Doch das stört ihn nicht.

Simon Graf
Publiziert heute um 06:00 Uhr

In New Jersey ist er gross herausgekommen: Jonas Siegenthaler.
Foto: Jonathan Labusch
Selbstständig werden musste Jonas Siegenthaler lange bevor er nach Übersee auswanderte. Schon als Drittklässler musste er sich mit seiner zwei Jahre älteren Schwester Julia zu Hause in Zürich-Affoltern oft selber organisieren. «Meine Mutter ging um vier Uhr morgens aus dem Haus, mein Vater um sieben. Und dann arbeiteten sie bis spätabends.» Das heisst, dass die beiden Kinder selber schauen mussten, dass sie zeitig aufstanden, frühstückten und in die Schule kamen. Mittags kehrten sie heim und kochten sich etwas, dann ging es zurück in die Schule.
«In all diesen Jahren haben wir nie verschlafen», sagt der heute 26-Jährige stolz. «Zum Glück hatte ich noch meine Schwester. Wir meisterten es zusammen recht gut. Für uns war das ein guter Lernprozess. Er brachte uns bei, wie man durchs Leben kommt.» Seine Mutter arbeitete in der Migros in Altstetten, sein Vater bei einer Baufirma in Dübendorf. Inzwischen sind sie beide pensioniert und nach Thailand ausgewandert, ins Heimatland der Mutter. «Ich gönne es ihnen sehr», sagt Siegenthaler. «Sie haben beide mega hart gearbeitet, jetzt können sie mit ihren zwei Hunden und den Katzen ein schönes Leben führen.»
Für Siegenthaler ging es diese Woche wieder los. Der Eishockeycrack hatte den Sommer mit einem achttägigen Besuch bei seinen Eltern und Verwandten in Thailand sowie meist in Zürich verbracht, wo er nun in Höngg wohnt. Zusammen mit seinen Teamkollegen Nico Hischier und Timo Meier flog er am Dienstag nach New Jersey. Für den 26-Jährigen ist es bereits die siebte Saison in Nordamerika. Am Hudson River ist er inzwischen sesshaft geworden. Im Sommer 2022 unterschrieb er vorzeitig einen Fünfjahresvertrag bis 2028.

Auf ins nächste Abenteuer: Jonas Siegenthaler mit Timo Meier (Mitte) und Nico Hischier (rechts).
Foto: Instagram
New Jersey ist zum Aussenposten des Schweizer Eishockeys geworden. Mit Goalie Akira Schmid (23), Abwehrturm Siegenthaler und den Stürmern Nico Hischier (24) und Timo Meier (26) spielen vier Schweizer für das gleiche NHL-Team. Das gab es noch nie. Eine ideale Anzahl, um ab und zu einen Jass zu klopfen. Doch Siegenthaler sagt: «Ich kann nicht jassen.» Entschuldigend fügt er an: «Aber im Flugzeug sitzt man auch nicht gemeinsam an einem Tisch.» Früher, im Bus der ZSC Lions, gelang es Captain Mathias Seger meist, eine Jassrunde zusammenzutrommeln. Da war Siegenthaler noch einer der Jungen.
Dafür pflegt dieser in der Ferne andere helvetische Bräuche. Über die Festtage, wenn es kalt wird an der Ostküste, isst er zu Hause ab und zu ein Raclette mit Nico Hischier, der in Jersey City nebenan wohnt. In New York gibt es sogar Raclettekäse aus der Schweiz zu kaufen. Und wenn das Team in Washington spielt, organisiert Siegenthaler für das Schweizer Grüppchen ein Abendessen im Schweizer Restaurant, in dem er während seiner Zeit bei den Capitals einmal die Woche gegessen hatte. «Die haben Zürcher Geschnetzeltes, Rösti mit Speck und Ei oder Apéroplättli mit Käse und Fleisch. Da fühlt man sich gleich wie zu Hause.»
Der Transfer, der ihn befreite
Sportlich fand Siegenthaler sein Zuhause aber erst in New Jersey so richtig. In Washington etablierte er sich mit 21 zwar in der NHL, doch in seiner dritten Saison geriet er da in eine Sackgasse. Unter dem neuen Coach Peter Laviolette sass er in der verkürzten Corona-Saison meist auf der Tribüne, im April 2021 gaben ihn die Capitals für einen Drittrunden-Draftpick an die Devils ab. «Für mich war es eine Saison zum Vergessen. Ich spielte auch nur ein paarmal für New Jersey, dann bekam ich Corona und bestritt erst am Schluss noch einige Spiele.»

Abklatschen mit den Kollegen: Im Playoff gegen die Rangers schoss Jonas Siegenthaler das Siegestor in Spiel 4.
Foto: Frank Franklin II (AP Photo)
Aber der Transfer befeuerte seine Karriere. «Ich bin froh, bekam ich eine zweite Chance und konnte sie packen», sagt er. Anders als Laviolette erkannte Devils-Coach Lindy Ruff den Wert Siegenthalers. Es half wohl auch, dass dieser in Captain Hischier einen prominenten Fürsprecher hatte. Der Walliser hatte sich schon vor dem Transfer für Siegenthaler starkgemacht. In New Jersey entwickelte sich der Zürcher rasch zu einem der verlässlichsten und zweikampfstärksten Verteidiger der Liga. Und in Washington nervte sich nun mancher Fan, wie man Siegenthaler einfach so hatte abgeben können.
Wie ein 1,90 Meter grosser Buddha
Das Verblüffende am 1,90-Meter-Hünen ist: In diesem so körperbetonten Sport gewinnt er seine Zweikämpfe ohne Aggression, scheinbar mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen wie ein Buddha. «Diese Ruhe hatte ich schon als Junior», sagt er. «Das Spiel wird immer schneller. Für einen Verteidiger ist es sehr wichtig, den Zweikampf fokussiert anzugehen und ruhig zu bleiben. Es ist nicht entscheidend, wie gross oder schwer du bist. Sondern wie du in diese Zweikämpfe steigst. Vieles ist taktisch und technisch. Das habe ich recht gut im Griff.» So kommt er fast immer als Sieger aus der Spielfeldecke heraus.
Inzwischen gilt Siegenthaler mit seinem Fünfjahresvertrag über 17 Millionen Dollar, der ab dieser Saison zu laufen beginnt, als Schnäppchen für die Devils. Das stört ihn nicht, im Gegenteil. «Ich nehme es als Kompliment. Ich bin zufrieden mit meinem Vertrag und der Laufzeit. Klar hätte ich ein Jahr warten können, erst in diesem Sommer unterschreiben und ein bisschen mehr Geld herausholen können. Aber mein Lebensglück hängt nicht davon ab. Ich verdiene genug und will etwas erreichen mit New Jersey. Ich hoffe, wir können in den nächsten Jahren um den Stanley-Cup spielen.»
Quote
«Ich verdiene ein bisschen mehr, aber ich gehe immer noch im Zara posten.»
Jonas Siegenthaler
3,4 Millionen Dollar pro Jahr sind, auch wenn Siegenthaler davon knapp die Hälfte für Steuern abziehen muss, in der Tat immer noch eine eindrückliche Summe. Wie verändern diese Millionen sein Leben? Gar nicht, sagt er. «Ich verdiene ein bisschen mehr Geld, aber ich lebe mein Leben immer noch gleich. Ich gehe immer noch im Zara posten. Klar gönne ich mir ab und zu etwas Teureres. Aber ich könnte viele Beispiele nennen von Spielern, die nur noch mit Markenkleidern herumlaufen, die immer nur das Teuerste haben müssen. Für mich ist Zara tipptopp. Die Kleider sind gut geschnitten für mich. Darum wüsste ich nicht, wieso ich mir einen anderen Kleiderladen suchen sollte.»
In der NHL ist der Luxus aber allgegenwärtig. Die Teams reisen alle in Privatjets und steigen nur in den besten Hotelketten ab, wie dem Ritz Carlton oder dem Four Seasons. «Uns geht es schon gut», sagt Siegenthaler. Aber die vielen Reisen setzen den Spielern auch zu. «Nach dem Auswärtsspiel geht es meist direkt zum Flughafen, um an den nächsten Ort zu fliegen. Dort kommen wir um ein, zwei Uhr morgens an und fahren ins Hotel. Und dann probierst du, so schnell wie möglich zu schlafen, um wieder fit zu sein fürs nächste Spiel.» Am liebsten hat er die Roadtrips nach Florida oder Tampa, um der Kälte der Ostküste zu entkommen. (Super Satz Simon Graf...
)
Die Traumwelt NHL
Er sei sich bewusst, dass er sich in einer Traumwelt bewege, sagt Siegenthaler. «Aber das Schönste ist das Spiel selber. Die NHL ist das Grösste, besser geht es nicht. Jeden Tag aufzuwachen, in dieser Liga zu spielen und deinen Traum zu leben, ist schon mega speziell. Vor allem als Schweizer. Wir sind ja nur ein kleines Grüppchen in der NHL. Diese Möglichkeit bekommen so wenige. Ich konnte sie nutzen. Und jetzt habe ich noch fünf Jahre vor mir.» Mindestens.
Siegenthaler ist nicht nur einer von zehn Schweizern in der NHL, sondern auch der Einzige mit thailändischen Wurzeln. Seinen Verwandten in Thailand habe er zuerst erklären und zeigen müssen, was er so mache. «Mittlerweile wissen sie, wo ich spiele und wie gross die Liga ist. Sie finden es recht cool. Aber ich würde nicht sagen, dass sie es gross verfolgen. Sie freuen sich einfach, wenn sie mich sehen.» Den thailändischen Pass hat er übrigens nicht. «Ich könnte ihn beantragen. Aber das Risiko ist mir zu gross, dass ich in Thailand ins Militär eingezogen werde.» Daran hätten wohl auch die Devils keine Freude.

Seine Reichweite ist ein grosser Vorteil: Jonas Siegenthaler in Aktion.
Foto: Rebecca Blackwell (AP Photo)
Siegenthaler ist aufgewachsen zwischen zwei Kulturen. Ihm gefallen die thailändische Lebensart, die Freundlichkeit und die Gelassenheit der Menschen. «Alle sind gut drauf, auch wenn sie nicht viel haben. Davon könnten wir uns in der Schweiz eine Scheibe abschneiden. Wir motzen schon, wenn der Zug eine Minute verspätet ist.» Er habe einen guten Mix aus beiden Kulturen, glaubt er. Punkto Verlässlichkeit sei er ganz der Schweizer. «Das schätzt man an uns vier Schweizern in New Jersey: Wir tun, was verlangt wird. Da sind wir uns alle recht ähnlich.»
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«Besuch aus der Schweiz muss mir immer Darvida mitbringen.»
Jonas Siegenthaler
Wenn er nach dem Sommer jeweils wieder abreise nach New York, falle ihm das zunächst schwer, gesteht Siegenthaler. «Für mich gibt es fast nichts Schöneres als einen Sommer in Zürich. Diese Stadt liegt mir am Herzen. Aber dann geht bei den Devils alles recht schnell los, und ich freue mich wieder auf die neue Saison.» Aus der Schweiz nimmt er jeweils ein paar Pack Darvida mit, dem beliebten Vollkorngebäck. Die kann man in New York nicht kaufen. Am liebsten mit Meersalz, Thymian oder Gruyère. «Besuch aus der Schweiz muss mir immer Darvida mitbringen», sagt er schmunzelnd.
Die Devils starten nach einer Saison, in der sie am drittmeisten Punkte holten und im Playoff ihren grossen Rivalen eliminierten, die New York Rangers, als Mitfavoriten. «Jetzt müssen wir das aber auch bestätigen», sagt Siegenthaler. «Uns ist bewusst, dass uns viele Schweizer die Daumen drücken. Wir wollen sie stolz machen.»