Der ZSC-Coach im Interview
«Wir mussten uns zu elft ein Badezimmer teilen»
Aufgewachsen in einer Grossfamilie, lernte Marc Crawford früh, sich zu behaupten. Vor dem Playoff-Start am Mittwoch gegen Davos sagt der Kanadier, wieso er in Zürich ein anderer Mensch geworden ist.

Simon Graf
Publiziert heute um 06:00 Uhr

Im Auge des Löwen: Marc Crawford (62) in den Kabinengängen der Swiss-Life-Arena.
Foto: Urs Jaudas
Marc Crawford, was für ein Mensch sind Sie?
Zuerst einmal denke ich, dass ich heute eine reifere Version des Marc Crawford von früher bin. Das hoffe ich zumindest. Die Zeit lässt uns reifen. Und sie hilft uns, besser zu verstehen, wie die Dinge in der Welt sind. Aber ich bin immer noch der gleiche Charakter, der ich mein ganzes Leben lang war. Ich war immer ein leidenschaftlicher Mensch, vor allem als Eishockeytrainer.
Sie können sehr charmant sein, aber auch schroff und beleidigend. Wie erklären Sie sich diesen Kontrast?
Ich stamme aus einer sehr grossen Familie. Wir waren neun Brüder und Schwestern. Da muss man lernen, miteinander auszukommen. Aber man trägt auch sehr starke Meinungsverschiedenheiten aus. Dennoch ist die Verbundenheit mit den anderen sehr ausgeprägt. Ich weiss noch, wie einer meiner grösseren Brüder auf dem Schulhof in eine Schlägerei geriet und ich ihm sofort zu Hilfe eilte. Er war acht, ich sechs. Zu Hause stritt ich mich mit keinem so sehr wie mit ihm. Aber wenn er ausserhalb in Probleme geriet, war ich für ihn da. Mit dieser Mentalität wuchs ich auf.
Wie eng ist es zu Hause mit acht Geschwistern?
(schmunzelt) Sehr eng. Eine der besten Lektionen bestand darin, dass wir uns zu elft ein Badezimmer teilen mussten. Alle mussten sich zur gleichen Zeit fertig machen. Da konnte man nicht so egoistisch sein und nur auf sich schauen. Da blieb kaum Zeit, sich die Haare zu machen, weil man hübsch aussehen wollte für jemanden. Ich lernte schon früh, zu teilen. In einer grossen Familie macht man alles zusammen. Man sieht auch gemeinsam fern, lacht oder jubelt zusammen.
Das Eishockey im Blut
Infos ausblenden
Marc Crawford.
Foto: Urs Jaudas
Eishockey war bei den Crawfords stets ein grosses Thema. Vater Floyd vertrat Kanada 1959 an der WM in Prag und wurde Weltmeister, drei seiner Söhne schafften später, was ihm verwehrt blieb: Bob, Marc und Lou spielten in der NHL. Marc wurde später als Coach der Bekannteste der Familie, feierte 1996 mit Colorado den Stanley-Cup-Sieg. Er coachte 15 Jahre in der NHL, ehe er 2012 zu den ZSC Lions stiess und diese in vier Jahren dreimal auf Rang 1 in der Qualifikation und 2014 zum Titel führte. Von 2016 bis 2022 wirkte er nochmals in der NHL, mehrheitlich als Assistenzcoach, ehe er am 28. Dezember 2022 als Nachfolger des entlassenen Rikard Grönborg zu den ZSC Lions zurückkehrte. Er hat zwei Kinder: Dylan (33) und Kaitlin (30). (sg.)
Und man lernt, sich zu behaupten. Geht Ihr enormer Ehrgeiz auf Ihre Kindheit zurück?
Auf jeden Fall. Ich wollte immer mit meinen älteren Brüdern abhängen. Wenn sie Eishockey oder Strassenhockey spielten, Fussball oder Baseball. Aber wenn du als Siebenjähriger versuchst, mit Zehn- oder Elfjährigen mitzuhalten, die körperlich viel reifer sind als du, musst du das durch Kampfgeist, Eifer und Hartnäckigkeit wettmachen. Wenn du nicht gut genug warst, hiess es schnell: Verschwinde hier!
Quote
«Ich fühlte mich besonders, weil mein Vater Eishockey spielte. Die Väter meiner Freunde gingen alle einer normalen Arbeit nach.»
Wollten Sie so werden wir Ihr Vater Floyd?
Ich denke schon. Aber als kleiner Junge denkst du nicht wirklich darüber nach. Ich war sehr stolz auf ihn. Auf die Tatsache, dass er professionell Eishockey spielte, bis er etwa 45 Jahre alt war. Ich weiss noch, wie ich ihn spielen sah. Und wie ich in die Kabine durfte mit anderen Kindern meiner Klasse und wir Kaugummi bekamen. Sie hatten auch einen Getränkeautomaten in der Garderobe, da konnten wir uns gratis ein Glas Coca-Cola herauslassen. Das war unglaublich cool! Ich fühlte mich besonders, weil ich solche Dinge tun konnte. Die Väter meiner Freunde gingen alle einer normalen Arbeit nach. Meiner hatte auch noch einen normalen Job, aber er war auch Eishockeyspieler. Natürlich prägte mich das. Ich war immer sehr sportbegeistert.
WEITER NACH DER WERBUNG
Sie bestritten fast 200 Spiele in der NHL, wurden aber bereits mit 28 Jahren Coach. War das Ihre Berufung?
Ich war schon als Kind der Organisator. Jede Strasse hatte ihr eigenes Team, und ich arrangierte Spiele gegen die anderen Strassenteams. Ob das im Hockey war, Baseball oder Fussball. Die Strasse war unser Spielplatz. Nach der Schule waren wir immer draussen, bis es dunkel wurde. Zuerst spielte ich in den Teams meiner Brüder mit, und als die Reihe an mir war, war ich es, der das Team unserer Strasse organisierte. Ich wies den anderen Jungs auch die Positionen zu und hielt Kontakt zu den Chefs der anderen Strassen. Die lernte ich in der Schule kennen. Wir legten jeweils Geld zusammen für die Turniere, vielleicht zwei Dollar pro Team, und das Siegerteam bekam alles und teilte es unter seinen Spielern auf. So wuchs ich auf, so von der zweiten bis zur siebten Klasse.

So kennt man Marc Crawford: Aufbrausend, laut, emotional. Manchmal zu emotional.
Foto: Ennio Leanza (Keystone)
Sie waren also schon früh der Coach.
Ich würde nicht sagen, dass ich coachte. Aber ich organisierte. Und das Organisieren ist ein grosser Teil des Coachings. Da geht es um Vorbereitung und um Organisation. Diese Qualitäten entwickelte ich schon früh. Lustigerweise habe ich mit einigen der Jungs aus der Nachbarschaft, die ihre Strassen organisiert hatten, noch heute Kontakt. Einer schreibt mir mindestens alle zwei Wochen eine E-Mail.
Sie sind seit 1988 fast ununterbrochen Trainer. Wie haben Sie sich in dieser Rolle entwickelt?
Am Anfang verliess ich mich noch primär auf meine Instinkte als Spieler. Spieler wissen sehr gut, was sie brauchen, um in diesem Sport zu überleben. Und ich hatte sehr gute Instinkte. Mit der Zeit sammelst du immer mehr Erfahrungen. Wenn etwas nicht funktioniert, probierst du es das nächste Mal auf eine andere Weise. Unterschiedliche Situationen erfordern unterschiedliche Stärken. Die Kunst liegt darin, herauszufinden, was es wann braucht. Letzten Endes geht es darum, die Spieler optimal vorzubereiten. Denn sie sind es, die gewinnen und verlieren. Du steuerst das Schiff, aber sie bringen es vorwärts. Deshalb suchst du dir im Team deine Leader, die verstehen, was es braucht. Heutzutage dreht sich alles darum, gut zusammenzuarbeiten. Wer das am besten hinkriegt, wird auch am erfolgreichsten sein.
Als Sie Ende Dezember Rikard Grönborg als ZSC-Coach ablösten, sagte Captain Patrick Geering: «Wir wollen, dass es uns gesagt wird, wenn wir einen Mist zusammenspielen. Und dass es Konsequenzen hat.» Sie gelten als sehr direkt. Wie holt man das Maximum aus den Spielern heraus?
Was Patrick gesagt hat, ist nur ein Teil der Wahrheit. Ein Coach muss Input geben und auch kritisieren. Kritik sollte aufbauend sein, meistens wird sie aber als negativ wahrgenommen. Jeder Mensch möchte geschätzt werden. Deshalb ist es zuerst einmal wichtig, dass die Spieler spüren, dass du sie schätzt und nur ihr Bestes im Sinn hast. Klar, man kann nicht immer sagen: Alles ist wunderbar, es kommt schon gut. Aber die Spieler müssen wissen, dass es vieles gibt, das sie gut machen, selbst wenn wir sie oft nur darauf hinweisen, was sie korrigieren müssen. Ich hoffe, dass diese Art von Kommunikation hier stattfindet. Es ist wichtig, seine Spieler zu kennen, regelmässig mit ihnen zu sprechen und ihr Feedback einzuholen, um zu wissen, wo sie stehen. Aber natürlich gibt es Bereiche, in denen es keine Kompromisse duldet, wenn man Erfolg haben will.
Sie galten in der NHL vor allem zu Ihren Anfangszeiten als harter Hund. Wie würden Sie Ihren Führungsstil beschreiben?
Ich war fordernd, und das bin ich immer noch. Aber ja, ich war zu Beginn meiner Karriere hart mit den Spielern, weil ich das als meine Stärke sah. Ich pushte die Spieler, um das Beste aus ihnen herauszuholen. Aber die Zeiten haben sich verändert. Den Spielern stehen heute viel mehr Informationen zur Verfügung als früher. Sie lernen anders, und sie wollen viel mehr wissen. Deshalb musste ich mich auch als Coach weiterentwickeln, auch im Umgang mit den Spielern. Wir haben hier in der Schweiz auf kleinstem Raum so viele Beispiele für unterschiedliche Stile von Trainern, die aus verschiedenen Regionen stammen. Aus Nordamerika, Skandinavien, aus der Schweiz, den Regionen des Ostblocks. Es ist faszinierend, das zu sehen.
Quote
«Ich hatte in meiner Coachingkarriere viele grossartige Leader. Aber Mathias Seger war der beste, den ich erlebte.»
Im Dezember 2019 wurden Sie in Chicago kurz suspendiert, weil ehemalige Spieler Ihnen vorgeworfen hatten, Sie hätten sie verbal verunglimpft oder ihnen auf der Bank in den Rücken getreten. Welche Lehren haben Sie aus jenen Vorwürfen gezogen?
Dass diese Vorwürfe wieder hervorgeholt wurden, hatte nichts mit mir zu tun, sondern mit anderen Entwicklungen in der Hockeywelt. Für mich waren sie eine Erinnerung daran, was ich schon lange wusste. Jene Vorfälle liegen eine Weile zurück. Als ich Los Angeles verliess (2008), arbeitete ich stark an mir. Ich wusste, als ich nach Dallas kam (2009), dass ich mich ändern musste. Ich habe seitdem grosse Schritte gemacht. Und ich glaube, dass mir meine erste Zeit in Zürich (2012 bis 2016) bei meiner Entwicklung sehr stark geholfen hat. Ich bin heute den Spielern viel näher als früher. Das verdanke ich auch Mathias Seger, der hier so viel Druck von mir nahm. Ich hatte in meiner Coachingkarriere viele grossartige Leader, aber er war der beste, den ich erlebte. Er verstand, was für ein Team wichtig ist, was für einen jungen Spieler wichtig ist, für die älteren, die auf dem absteigenden Ast sind. Ich schätzte es enorm, was er in die Gruppe einbrachte. Meine Zeit in Zürich öffnete mir die Augen.
Quote
«Nie zuvor bin ich den Spielern nähergestanden als hier. Je mehr du emotional gibst, desto mehr bekommst du zurück.»
Inwiefern?
Meine Frau und ich lebten im gleichen Dorf (Winkel) wie viele Spieler. So sahen wir sie die ganze Zeit, lernten sie besser kennen und begannen teilweise auch, für sie zu babysitten. Nie zuvor bin ich den Spielern nähergestanden als hier. Es lehrte mich: Je mehr du emotional gibst, desto mehr bekommst du zurück. Das war eine wichtige Erfahrung in meiner Entwicklung. Danach wurde ich in der NHL Assistenztrainer. Das ist eine ganz andere Rolle als Headcoach. Du bist weniger der Chef der Spieler, sondern mehr der, der sie unterstützt. Ich bin kein perfekter Mensch. Das weiss ich. Aber ich verstehe mich selbst jeden Tag besser und besser. Und ich versuche, immer sicherzustellen, dass ich sowohl meine Stärken als auch meine Schwächen im Griff habe. Aber Stress macht es einem nicht immer leicht.
Apropos Stress: Ihre homophobe Verunglimpfung eines Schiedsrichters vor rund einem Monat im Spiel gegen Biel schlug hohe Wellen und trug Ihnen eine Spielsperre ein. Wie beurteilen Sie rückblickend diese Entgleisung?
Sie ist mir sehr peinlich. Es gibt keine Entschuldigung für mein Verhalten, und ich habe die Strafe und die Kritik verdient, die ich dafür bekommen habe. Es war ein Rückschlag. Alles, was ich dazu sagen kann, ist, dass ich an mir arbeite, damit so etwas nicht mehr passiert. Und ich hoffe, ich habe mich ausreichend dafür entschuldigt.
Seitdem waren Sie hinter der Bank auffällig ruhig.
Ich bin ein emotionaler Mensch. Die Emotionen sind eine meiner Stärken. Wenn sie überhandnehmen, können sie aber schädlich sein. Ich muss lernen, die Balance zu halten. Aber ich muss immer noch mich selbst sein. Ich muss immer noch für meine Spieler einstehen. Ich muss wissen, wie emotional ich in unterschiedlichen Situationen sein kann. Aber was passiert, ist im Eishockey nicht vorhersehbar. Das macht auch seinen Reiz aus.

Haben die Spieler die Marschroute fürs Playoff verstanden? Marc Crawford, der Eishockeylehrer.
Foto: Ennio Leanza (Keystone)
Was treibt Sie nach 35 Jahren noch an, Coach zu sein?
Was mich hier antreibt, ist, dass ich diese Organisation und wofür sie steht, wirklich mag. Ich liebe es, Teil der Geschichte dieses Clubs zu sein. Es ist faszinierend, die Bilder von den Anfängen zu sehen, von den Menschenmassen auf dem Dolder. Als ich nach Zürich kam für die Eröffnung der Swiss-Life-Arena, traf ich Heinz Hinterkircher. Ich möchte sein wie er, wenn ich 99 Jahre alt bin. Sofern ich das noch erlebe. Ich habe so viel Respekt dafür, was Herr Frey hier aufgebaut hat, von der Fusion mit GC bis heute. Nun hat der Club im neuen Stadion ein neues Kapitel aufgeschlagen. Ich hoffe, ich kann Teil seines Vermächtnisses werden.
Sie haben in Zürich einen Vertrag bis 2025 unterschrieben, dann sind Sie 64. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, Ihre Karriere hier zu beenden?
Ich bin in einem Alter, in dem man anfängt, sich zu überlegen, was man noch mit dem Rest seines Lebens anstellen möchte. Meine Frau und ich haben schon ein wenig darüber gesprochen. Aber mein Vater arbeitete bis Mitte 80. Und auch Herr Frey ist bald 80 und arbeitet immer noch auf höchstem Niveau. Sagen wir es so: Ich bin mir bewusst, wo ich im Leben stehe, aber wie mein Karriereende aussehen soll, darüber habe ich mir noch keine konkreten Gedanken gemacht. Zumal es ein grosser Teil meines Wesens ist, Teil eines Teams zu sein.