Teil 1
«Eine Epidemie, die die Alten traf.»Gayle Kabaker
«Öffnet eure Länder!»
Knut Wittkowski war leitender Epidemiologe an der New Yorker Rockefeller-Universität. Für die drakonischen Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus gebe es keine Gründe. Er warnt vor verheerenden Konsequenzen.
20.05.2020
Von Fraser Myers
Überall auf der Welt erklären Regierungen, sie richteten sich mit ihren drakonischen Massnahmen zur Eindämmung des Virus nach der Wissenschaft. Aber die Wissenschaft ist in Bezug auf Covid-19 uneins. Viele Experten haben ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit der Massnahmen und vertreten die Auffassung, dass die weitverbreitete Furcht vor Covid-19 nicht gerechtfertigt sei.
Knut Wittkowski, geboren 1954 in Berlin, ist einer dieser Experten, die für einen Richtungswechsel eintreten. Er leitete die Abteilung Biostatistik, Epidemiologie und Forschungsdesign an der Rockefeller-Universität in New York, wo er heute als Unternehmer tätig ist.
Herr Wittkowski, ist Covid-19 gefährlich?
Nur wenn sie altersbezogene schwere Begleiterkrankungen haben. Wenn Sie in einem Pflegeheim sind, weil Sie alleine nicht mehr leben können, dann ist es gefährlich für Sie, infiziert zu werden.
Wieso sterben Ärzte und Pflegepersonal, die nicht alt sind und keine Begleiterkrankungen haben?
Ein paar sterben, bedauerlicherweise, wie bei jeder Grippe, und das wird dann von den Medien hochgespielt.
Wie weit ist die Epidemie fortgeschritten?
In China ist sie vorbei. In Südkorea ist sie vorbei. In den meisten Ländern Europas sind die Zahlen beträchtlich gesunken. Grossbritannien und Weissrussland sind Nachzügler, weshalb das Bild, das sie abgeben, nicht genau dasselbe ist wie jenes der Länder in Kontinentaleuropa.
Haben die Interventionen eine deutliche Wirkung gehabt?
Als die ganze Geschichte begann, wurde der Schutz der Spitäler vor Überlastung als ein Grund für den Shutdown angeführt. Es gibt nun aber keinen Hinweis darauf, dass die Spitäler je hätten überlastet werden können, gleichgültig, was wir taten. Deshalb könnten wir jetzt wieder öffnen und die ganze Geschichte vergessen. Das ideale Vorgehen wäre eine einfache Isolierung der Pflegeheime gewesen. Damit das Personal rund um die Uhr dortgeblieben wäre, hätte es mit Überstundengeld bezahlt werden müssen.
Wie lange kann man so etwas tun?
Drei Wochen, das ist möglich. Achtzehn Monate ist unmöglich. Die Abflachung der Kurve – die Verlängerung der Epidemie – macht es schwieriger, die Älteren, die in Gefahr sind, zu schützen. Je länger die Epidemie dauert, desto mehr alte Menschen werden infiziert, desto mehr Todesfälle sind zu beklagen.
Was sind weitere Gefahren des Shutdowns?
Als direkte Folgen haben wir Selbstmorde, häusliche Gewalt und andere soziale Konsequenzen, die zum Tod führen. Dann gibt es Leute, die wegen zu grosser Angst bei anderen Problemen wie Schlaganfällen oder Herzinfarkten nicht ins Spital gehen. Sie vermeiden den Spitalaufenthalt aus Covid-Furcht, und dann sterben sie.
Haben wir bald Herdenimmunität?
Alle Studien, die bisher angefertigt wurden, zeigen, dass bereits mindestens 25 Prozent der Bevölkerung immun sind. Das gibt uns ein angenehmes Polster. Wenn 25 Prozent der Bevölkerung immun sind, werden es bald jene 50 Prozent sein, die nötig sind für das, was Herdenimmunität genannt wird. Deshalb wird die Epidemie sich nicht so schnell ausbreiten, wie sie das am Anfang getan haben könnte.
Sollte man Social Distancing praktizieren?
Nein.
Wieso nicht?
Wieso? Welche Rechtfertigung gibt es dafür? Die Leute sollten von der Regierung eine Erklärung verlangen. Die Regierungen schränken die Freiheit ein. Sie müssen nicht mich nach einer Rechtfertigung fragen. Es sind die Regierungen, die sich rechtfertigen müssen dafür, was sie tun. Sorry, aber so ist es.
Was taugen Masken?
Nicht viel – aber jetzt, da die Epidemie abgeklungen ist, gar nichts.
Was lief eigentlich falsch?
Die Regierungen ermöglichten keine offene Diskussion, an der verschiedene Stimmen beteiligt gewesen wären. In Grossbritannien hörte man nur eine Person: Neil Ferguson. Seine Projektionen basierten auf der Annahme, dass ein Prozent aller Personen, die sich infizieren, sterben würden. Dafür gibt es keine Rechtfertigung. Haben die Südkoreaner die Wirtschaft zugemacht? Nein. Auch die Chinesen schlossen die Wirtschaft nicht. Man schränkte das Ausreisen aus Wuhan ein, stoppte den Zugverkehr, blockierte die Ausfallstrassen. Das soziale Leben in der Stadt selber wurde erst sehr spät eingeschränkt.
Was schliessen Sie daraus?
Obschon die Regierungen wissen mussten, dass die Epidemie in drei Wochen vorbei und die Zahl der Toten gering sein würde – wie bei einer normalen Grippe –, begannen sie Mitte März mit den Shutdowns.
Warum taten sie das?
Weil jemand aus einem Hut die Zahl hervorgezogen hatte, nach der ein Prozent aller Infizierten sterben würde. Man könnte argumentieren, dass vielleicht ein Prozent aller Fälle sterben würde. Aber ein Prozent aller Infizierten ergibt überhaupt keinen Sinn. Diesen Beweis hatten wir schon Mitte März.
Erklären Sie bitte den Unterschied zwischen «Fällen» und «Infizierten»?
Fälle sind Leute, die Symptome haben, die ernst genug sind, um ins Spital zu gehen oder behandelt zu werden. Die meisten Infizierten haben überhaupt keine Symptome. Wenn man eines Morgens mit Halsweh aufwacht, ist das noch kein Fall. Ein Fall ist es erst, wenn jemand sich im Spital meldet.
Die britische Regierung war beeinflusst von der Situation in Italien. Was lief dort schief?
Es gab viele Tote in Altersheimen. Das erschreckte die Bevölkerung. Daraufhin tat Italien etwas Unlogisches: Man schloss die Schulen, so dass die Schulkinder isoliert und nicht infiziert wurden. Deshalb wurden die Kinder nicht immun.
Weshalb ist das unlogisch?
Sehr früh wussten wir von China und Südkorea, dass das eine Epidemie ist, die ausläuft. Aber als sie Italien erreichte, hörten wir auf, sie als ein altersbedingtes Problem zu betrachten, und warfen alle Altersgruppen zusammen. Die Idee, dass die Spitäler überlastet würden, wenn man die Schulen nicht schlösse, ergibt überhaupt keinen Sinn. Ich kann ehrlich immer noch nicht ganz begreifen, wie unsere Regierungen so dumm sein konnten.
Die Regierungen sagen, sie folgten der Wissenschaft.
Wissenschaftler sind heute in einer sonderbaren Lage: Sie sind finanziell von den Regierungen abhängig. Das ist ein Trend, der sich in den letzten vierzig Jahren entwickelt hat. Vorher hatte man als Professor an einer Universität sein Salär und seine Freiheit. Heute gibt es ein Pult und Zugang zur Bibliothek. Und dann muss man die Regierung um Finanzierung angehen und einen Antrag auf Fördergeld stellen. Wenn du im Ruf stehst, die Regierung zu kritisieren, was geschieht dann mit deinen Chancen auf Finanzierung? Das schafft einen riesigen Interessenskonflikt. Die Leute, die in Deutschland und der Schweiz offen reden, sind alle von Regierungsgeld unabhängig.
Wie beurteilen Sie die Politik der USA?
Der erste Todesfall in den Vereinigten Staaten war in einem Pflegeheim in Seattle. Das war gegen Ende Februar. So wusste jedermann, dass wir dasselbe erwarten würden, was wir in Italien gesehen hatten: eine Epidemie, die die Alten traf. Aber bis vor kurzem erklärte die Regierung des Staates New York, ein Pflegeheim, das keine Patienten aus den Spitälern aufnehme, verliere seine Finanzierung. Die Pflegeheime waren also gewissermassen gezwungen, das Virus aus den Spitälern zu sich zu importieren.
Lassen sich die Folgen dieser Politik abschätzen?
Ein Drittel aller Todesfälle im Bundesstaat New York war in Pflegeheimen. Man hätte durch deren Isolierung allein in den USA 20 000 Todesfälle vermeiden können. Nach drei oder vier Wochen hätten die Heime wieder geöffnet werden können. Das wäre eine vernünftige Strategie gewesen.
Am Wochenende hat in Deutschland die Fussball-Bundesliga unter Ausschluss des Publikums ihren Betrieb wieder aufgenommen. Ist das sinnvoll?
Sinnvoll, um die Demokratie weiter auszuhebeln.
Wie meinen Sie das?
Eine Atemwegserkrankung breitet sich im Freien nicht aus. Trotzdem sind mir Schulen und Wirtschaft wichtiger. Die Schulen zu schliessen, die Wirtschaft gegen die Wand zu fahren, dazu bestand kein Anlass.
Es ist leichter, das rückblickend zu sagen.
Die Epidemien in Wuhan und Südkorea waren Mitte März vorbei. Im März unterbreitete ich der Online-Zeitschrift Medrxiv ein Papier, das all das zusammenfasst. Spätestens gegen Ende März waren die Zahlen vorhanden. Am 17. April präsentierte man am Coronavirus-Presse-Briefing im Weissen Haus Zahlenmaterial, einschliesslich einer Abbildung. Ich warf einen Blick darauf und fragte mich, wieso die Leute nicht aufsprangen.
Was war zu sehen?
Die Abbildung zeigte das Zahlenmaterial aus dem ILI Net*. Während fünfzehn Jahren haben die Spitäler jede Person gezählt, die sich mit einer grippeähnlichen Krankheit meldete – Fieber, Husten et cetera. In der Grippesaison 2019/20 gab es drei Gipfel: Der erste war im späten Dezember – Influenza B; der nächste im späten Januar – Influenza A; der letzte um den 18. März – Covid-19. Damit der Gipfel an jenem Tag erreicht wurde, mussten Patienten eine siebentägige Inkubationsperiode durchgemacht haben und dann Symptome zeigen. Man geht aber nicht mit den ersten auftretenden Symptomen ins Spital. Erst wenn es einem nach drei Tagen schlimmer geht, meldet man sich im Spital.
Wie ging es weiter?
Vier Wochen später, am 8. April, war die Zahl der Infektionen bereits gesunken. Rechtzeitig auf Ostern hätte unsere Regierung zugeben müssen, dass sie übervorsichtig gewesen war. Die Leute hätten das akzeptiert. Zwei Wochen Shutdown wären nicht das Ende der Welt gewesen. Wir hätten nicht die Situation gekriegt, die wir jetzt in den USA haben, mit dreissig Millionen Arbeitslosen. Firmen gehen innerhalb von zwei Wochen nicht bankrott. Zwei Monate sind eine ganz andere Geschichte.