So, mehr sag ich zu dem Artikel aber nicht mehr:
Endlich alt! Und fünf Gründe, warum das eine gute Nachricht ist
Soll man sich etwa fürchten vor dem Alter? Wozu auch! Es kommt, was kommen wird. Bis dahin kann man sich freuen, dass man fast nichts mehr muss.
Roman Bucheli31.07.2023, 05.30 Uhr
6 min
Das Alter verschafft einem neue Freiheiten. Man muss nun vieles nicht mehr tun, darf hingegen vieles wollen, sofern man noch kann. Diese Engländerin kann es sogar noch sehr gut.
Ian Berry / Magnum
Eigentlich waren wir schon alt, als wir noch Kinder waren. Entweder hiess es, wir seien jetzt zu alt, um noch zu heulen, wenn wir hinfielen, oder dann waren wir zu alt, um einfach sinnlos herumzublödeln. Zugleich waren wir immer für alles noch zu jung. Zu jung fürs Kino, zu jung zum Rauchen oder fürs Trinken. Immer kamen wir zu früh oder zu spät. Das Leben ging an uns vorüber, der Faltenwurf der Zeit schien uns zu verschlucken.
Und nun geht das im gleichen Stil weiter. Irgendwann wird man mir sagen, ich sei zu alt, um noch arbeiten zu müssen, aber ich weiss auch, dass ich noch lange zu jung bin, um aufzuhören. Man ist also stets auf der falschen Seite, sei es als vorzeitig gealtertes Kind, sei es als kindischer Alter. Und verblüfft stelle ich fest, wie sich die Dinge spiegelbildlich wiederholen. Als Kind wollte und sollte ich älter sein, als ich war, jetzt, da ich alt werde, kann ich es auch nicht glauben: In ein paar Tagen bin ich 63. Ist das schon alt?
Mit André Gide könnte ich nun gestehen, was der Schriftsteller schon mit 61 seinem Tagebuch anvertraute: «Nur mit grosser Anstrengung kann ich mich davon überzeugen, dass ich selbst so alt bin wie jene, die mir in meiner Jugend so alt erschienen.» Meinen Vater möchte ich davon ausnehmen. Als er in meinem Alter war, blieben ihm noch zehn Jahre zu leben. Doch nie, auch im Tod nicht, kam er mir alt vor, nicht so alt jedenfalls wie andere Männer in seinem Alter. Wieso sollte es mir anders gehen?
Die Rückkehr der Langeweile
Vielleicht kann ich darum ganz entspannt und ohne jeden Zynismus sagen: Endlich alt! Und sofern man das Alter daran erkennt, dass man am Morgen mit Hingabe den Vögeln zuschaut und bloss noch mit halbem Ohr die Frühnachrichten hört, dann, ja, kann ich nur zustimmen: Ich bin auf dem besten Weg, alt zu werden. Während die verbliebene Lebensfrist kürzer wird, schwindet das Interesse an flüchtigen Dingen.
Was sind dagegen die Vögel! Federleicht zwar, verletzlich, hypernervöse Wesen, immer auf der Hut vor drohenden Gefahren. Sie waren hier, lange bevor der erste Mensch auf zwei Beinen zu gehen lernte, und sie werden noch hier sein, wenn der letzte Mensch längst gegangen sein wird. Spiegelbildlich kehrt mit dem Interesse an den Vögeln zurück, was wir als Kinder erlebten. Langeweile hiess der furchterregend schöne Zustand, wenn wir an Regentagen faul herumlagen und nichts mit uns und noch weniger mit der Welt anzufangen wussten. Die Zeit dehnte sich zur klebrigen Masse.
Im Alter hört die Langeweile auf den vornehmen Namen Musse. Es ist beides fast dasselbe, nur gibt sich Letzteres einen würdevollen Anschein. Wer allerdings den Vögeln zuschaut, dem kann gar nicht langweilig werden, vielmehr verkörpert er die Langeweile. Denn seine stille Leidenschaft verlangt nur Zeit und Nichtstun. Sie ist nur Bewunderung und Staunen, auch wenn die Vögel jeden Tag fliegen, wie sie an allen Tagen zuvor geflogen sind. Glücklich darum der Alte, der schon als Kind eine Begabung für die Langeweile hatte.
Neue Freiheiten
Die Philosophin Hannah Arendt gab dem Gedanken einmal eine schlichte, dafür umso einleuchtendere Form: «Einer der grössten Vorteile des Älterwerdens ist doch, dass man endlich sich reguläre Rechte auf Bequemlichkeit erwirbt.» Es ist schön, wie sie dem Satz ganz nebenbei ein merkantiles Kalkül unterschiebt. Als sei der Vorzug des Alters ein Tauschgeschäft wie jedes andere und also kein Privileg, das man sich anmasst oder das einem gönnerhaft gewährt wird.
Zu dieser Bequemlichkeit gehört zuallererst, dass man nicht mehr arbeiten muss, bestenfalls noch kann, noch lieber jedoch den anderen dabei zuschaut. Nirgendwo wird Arbeit so anschaulich wie auf Baustellen. Darum sieht man die alten Männer an den Absperrungen stehen, wo sie konzentriert beobachten und fachmännisch murmelnd das Geschehen kommentieren. Ich gestehe, so oft ich kann, geselle ich mich zu ihnen, denn ich übe längst für später.
Das Alter verschafft einem neue Freiheiten. Man wird vieles nicht mehr tun müssen. Im Umkehrschluss heisst das natürlich auch, dass man nicht mehr gebraucht wird. Das wiederum ist ärgerlich und kränkend, weil man gerne glaubt, man sei unentbehrlich. In Wahrheit zeigt sich nun vor allem die Ersetzbarkeit eines jeden. Ein kurzes Ruckeln, und schon läuft alles wieder wie geschmiert.
Immerhin, die neuen Freiheiten bleiben. Kein Wecker reisst einen aus dem Tiefschlaf, keine Sitzungen zerhacken den Tag, das Wochenende ist endlich frei und alle übrigen Tage sowieso. Und weil man vieles nicht mehr muss, darf man umso mehr wollen. Das wiederum setzt mindestens voraus, dass man über die Mittel und die Fähigkeiten verfügt, um das, was man will, auch tun zu können. Man sollte darum vorsichtigerweise nur wollen, was man auch (noch) kann.
Wie immer im Leben, und da macht es keinen Unterschied, ob man jung ist oder alt, gibt es Komplikationen. Simone de Beauvoir hat dafür ein Wort gefunden, das genauso heimtückisch klingt, wie es der Sachverhalt ist, den es beschreibt: «Feindseligkeits-Koeffizient der Dinge». Dieser nimmt allerdings im Alter zu. Die Welt sei, so de Beauvoir, plötzlich voller Hindernisse und gespickt mit Bedrohungen, die es zuvor nicht gegeben hat, weil sie bis dahin keine Hindernisse oder Bedrohungen darstellten.
Zum äusseren Feind kommt der eigene Körper, der sich in unvorteilhafter Weise verselbständigt: Tränensäcke hängen, wo sie nicht hingehören; Zähne fallen aus, obwohl man sie noch braucht; die Knochen schmerzen, wenn man sie bewegt, und bald auch sonst. Und das sind nur die harmloseren Gebresten, die einen Vorgeschmack darauf geben, was erst noch kommt.
Es ist wie mit dem Wein
Eines der schönsten Zeugnisse dafür, wie körperlicher Unbill zu trotzen wäre, wird von Juliette Drouet überliefert. Sie war ein halbes Leben lang die Geliebte und Muse von Victor Hugo. Mit 71 Jahren hat sie in einem von Tausenden von Briefen, die sie dem Schriftsteller geschrieben hatte, die Unverbrüchlichkeit ihrer Liebe beschworen: «Alles, was das Alter meinem Körper mit Gewalt nimmt, gewinnt meine Seele an unsterblicher Jugend und strahlender Liebe.»
Auch sie macht also, wie Hannah Arendt, eine Art Rechnung auf, vielleicht möchte sie den Ernst und das Pathos ein wenig verwischen. In ihrer doppelten Buchhaltung von Körper und Seele geht nichts verloren. Was auf der einen Seite im Soll steht, figuriert auf der anderen im Haben. Aber ach, wäre es doch nur so einfach. Es war auch für Juliette Drouet nicht so einfach. Wenig später beklagte sie den körperlichen Verfall, da «kann ich mich noch so viel an meine Liebe stützen». Allerdings litt auch die Treue des Geliebten mehr, als es ihr lieb war.
Soll ich mich also fürchten vor dem Alter? Ich wüsste nicht, wieso ich müsste. Fürs Erste bleibe ich dabei: Endlich alt! Und ich habe mindestens fünf Gründe, warum das eine gute Nachricht ist. 1: Ich bin kein Kind mehr. Es war nicht schrecklich, aber unangenehm genug. 2: Ich bin kein Teenager mehr. Es war schrecklich. 3: Ich muss nicht mehr studieren. Es dauerte zu lang. 4: Das Schreiben ist noch immer und stets aufs Neue ein grandioses Abenteuer mit ungewissem Ausgang. 5: Irgendwann werde ich nicht mehr lesen müssen, was andere twittern.
Ich gehöre nicht zu den Menschen, die dem Vergangenen nachtrauern. Mit jedem Lebensalter, das ich hinter mir liess, wurde ich froher. Wieder etwas überstanden, dachte ich. Das Leben wurde immer besser. Es ist wie beim Wein, der braucht auch Zeit. Lerne ich noch? Kann sein. Lieber halte ich es mit Roland Barthes, der 61-jährig seine Antrittsvorlesung hielt am Collège de France und sie mit dieser schönen Beobachtung beendete: «Es kommt jetzt vielleicht das Alter einer anderen Erfahrung: der des Verlernens.» Da hatte er noch genau drei Jahre zu leben.
Die Einübung in die Kunst des Verlernens ist allerdings eine zwielichtige Sache. Allzu weit möchte man sich nicht vorwagen in diese Sphären. Wo also die Zuversicht finden? Vielleicht in den Briefen von Juliette Drouet. Dann in den Gedichten des grossen Philippe Jaccottet. In seinem «Livre des morts» beginnt ein Gedicht mit diesem Vers: «Wer sie betreten hat, die Ländereien des Alters . . .» Mehr weiss ich nicht von dem Gedicht. Solange ich solche Gedichte noch entdecken kann, brauche ich nichts zu fürchten.
Für alles andere und Spätere zähle ich auf die Vögel.