Noch ein sehr sehr spannender Artikel zum Schwedischen Weg, sorry Mushu, aus der Weltwoche 
«Die Unterschiede werden klein sein»
Schweden verblüfft die Welt. Statt auf Lockdown setzt Stockholm auf Eigenverantwortung. Man werde nicht mehr Corona-Tote beklagen als anderswo, ist Epidemiologe und Regierungsberater Johan Giesecke überzeugt. Aber die Wirtschaft bleibe von massiven Schäden verschont.
22.04.2020
Von Urs Gehriger
Die Welt kriegt den Mund nicht zu vor Staunen, wenn Bilder aus Schweden über den Bildschirm flimmern. Wo anderswo gähnende Leere herrscht, flanieren dort Menschen unter Kirschblütenbäumen. In den Kneipen wird getafelt und gebechert. Die Behörden empfehlen, zu Hause zu bleiben, aber es gibt keine Kontrollen. Ansammlungen von bis zu fünfzig Leuten sind erlaubt, Geschäfte, Grund- und Mittelschulen bleiben geöffnet.
Schweden habe sich bereits im Januar entschieden, «dass die Massnahmen, die wir gegen die Pandemie ergreifen, auf gesicherten wissenschaftlichen Beweisen basieren sollten», sagt Professor Johan Giesecke. Er zählt weltweit zu den führenden Epidemiologen und berät die Regierung in Stockholm und den Staatsepidemiologen Anders Tegnell in der Corona-Krise. «Wir wissen seit 150 Jahren, dass Händewaschen bei der Eindämmung einer Epidemie hilft.» Für die meisten anderen Massnahmen der übrigen Länder wie Grenzschliessungen, Schulschliessungen oder Social Distancing gebe es hingegen fast keine wissenschaftlichen Belege, dass sie etwas nützten, so Giesecke im Interview mit Unherd.com, einem Newsportal, das sich Reportagen gegen den Mainstream verschrieben hat.*
Schweden verzeichnete Anfang Woche 1765 Corona-Tote. Eine verhältnismässig hohe Zahl, verglichen mit den skandinavischen Nachbarländern. Doch Giesecke gibt sich überzeugt, dass Schweden letztlich nicht schlechter dastehen wird als der Rest der Welt. «Die Unterschiede zwischen den Ländern werden ziemlich klein sein.»
Sterberate «viel, viel tiefer» als behauptet
Trotz drakonischer Massnahmen würden andere Staaten nicht substanziell mehr Leben retten. Der einzige Unterschied seien die wirtschaftlichen Folgen, die in Schweden massiv milder ausfielen als anderswo. Giesecke vergleicht Covid-19 mit einem «Tsunami einer gewöhnlich ziemlich milden Krankheit, die über Europa hinwegzieht». Mit «ziemlich mild» meint er, dass «die meisten Leute, die sie bekommen, kaum bemerken, dass sie krank sind».
Er ist überzeugt, dass die effektive Sterberate «viel, viel tiefer» liege als bisher in Medien und Wissenschaftskreisen diskutiert. Sie liege auf dem Niveau einer «ernsten Grippesaison», bei «ungefähr 0,1 Prozent». Die hohen Sterblichkeitsraten rührten daher, dass man von viel zu tiefen Infektionszahlen ausgehe. In Schweden und anderswo sei «ein substanzieller Teil der Gesellschaft bereits mit dem Virus infiziert», da sei er sich sicher, der werde aber in den Berechnungen nicht einkalkuliert.
Giesecke spricht in unaufgeregt-nüchternem Ton. Die richtige Politik sei es, nur die Alten und Gebrechlichen zu schützen. Nach der hohen Sterberate in Schweden gefragt, erklärt er, in seinem Land würden aufgrund der lockereren Massnahmen einige ältere und besonders gefährdete Menschen früher aus dem Leben scheiden, die anderswo etwas später auch sterben würden. «Ihr Leben wird um einige Monate verkürzt», so der Schwede. Die Staaten mit rigorosen Sicherheitsmassnahmen könnten letztlich aber nicht mehr Leben retten. «Wenn man dort mit der Exit-Strategie beginnt, wird man Tote verzeichnen, die wir bereits gehabt haben.»
In der vielbeschworenen Exit-Strategie, vor der nun die meisten Länder stehen, sieht Giesecke eine heikle Herausforderung voller Risiken. Man müsse dosiert mit einzelnen Lockerungen beginnen. «Wenn man zum Beispiel die Schulen wieder öffnet und die Todeszahlen wieder steigen, muss man wieder zurückbuchstabieren und eine andere Lockerung ausprobieren», sagt Giesecke. «Eine wachsende Zahl an Todesfällen wird Teil einer solchen Exit-Strategie sein.»
Shutdown mit mehr Schaden als Nutzen
Im europaweiten Shutdown sieht Giesecke eine fehlgeleitete Politik, die mehr schade als nütze. «Als ich zum ersten Mal von den drakonischen Massnahmen hörte, fragte ich mich: ‹Hat einer der starken, entschlossenen Politiker je einen Gedanken daran verschwendet, wie wir da wieder rauskommen?›» Mit Verweis auf diktatorische Trends in Osteuropa sagt er: «Die Auswirkungen können riesig sein, wir haben noch nicht einmal begonnen, sie zu sehen.»
Für die grosse Unsicherheit in der Bevölkerung, die seit Beginn der Pandemie um sich greift, zeigt Giesecke Verständnis. «Es ist eine neue Krankheit, viele Menschen sterben, man weiss nicht genau, was passieren wird. Und die Furcht vor Ansteckung ist in den Menschen fast genetisch verankert.» Weniger Nachsicht hat er mit auftrumpfenden Politikern. Mit der Krise sähen sich politische Entscheidungsträger aufgefordert, «Stärke, Entschlossenheit, Macht zu zeigen». China habe mit seinen rigorosen Massnahmen den Ton angegeben. «Aber wir können uns nicht mit China vergleichen, das ist eine andere Welt.» Dort könne man Menschen in ihren Häusern einschweissen. Aber in einer Demokratie gehe das nicht. Nach drei, vier Wochen sagten die Leute: «Ich kenne niemanden, der Covid hatte, und ich will raus, ich will in die Kneipe.»
Giesecke rechnet damit, dass Schweden in ein paar Monaten wieder zur Normalität zurückkehren kann. Mit durchschnittlich nicht mehr Toten als sonst wo, aber mit einer Wirtschaft, die deutlich weniger Schaden erlitten hat als in den meisten anderen vom Coronavirus betroffenen Ländern.