Anna Schmidhauser geht auch mit 102 noch ins Stadion – und danach auf einen Gin Tonic
Vom Landjäger für Ferdy Kübler bis zum Schwatz mit Niki Lauda. Die Zürcherin trotzt dem Alter und findet: Der Rollator ist die beste Erfindung der Menschheit.

Publiziert heute um 11:43 Uhr
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Leidenschaftliche Langnau-Anhängerin: Anna Schmidhauser besucht auch mit 102 Jahren noch Eishockeyspiele. Und warum Uruguay? «Die haben die schönsten Männer.»
Foto: Sabine Rock
In Kürze:
- Die bald 103-jährige Anna Schmidhauser ist besonders angetan von den SCL Tigers.
- Als alleinerziehende Mutter dreier Töchter arbeitete sie 33 Jahre als Reinigungskraft.
- Mit ihrer Enkelin Lara besucht sie Eishockeyspiele und geht danach gern in die Beiz.
- Schon als Kind besuchte sie regelmässig die offene Velo-Rennbahn in Oerlikon.
Anna Schmidhauser sitzt zufrieden in ihrem Sessel, eingehüllt in einen gelb-roten Strickpullover mit dem Logo der SCL Tigers, ein Geschenk ihrer Enkelin Lara. An den Wänden hängen Bilder, die sie mit Eishockeyspielern zeigen, dazwischen Trikots. Selbst ihr Rollator ist festlich geschmückt – mit Wimpeln von Schalke 04, Langnau und dem Wappen Uruguays.
Fragen braucht man kaum. Schmidhauser erzählt gern aus ihrem langen Leben – und wenn sie lacht, steckt dieses Lachen an. Am 18. Dezember wird sie 103 Jahre alt. Stolz erwähnt Schmidhauser, am selben Tag wie Willy Brandt geboren zu sein – neun Jahre nach dem vierten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. «Ein grosser Staatsmann», schwärmt sie.
Ein Blick auf das Jahr ihrer Geburt zeigt, wie weit ihre Lebensgeschichte zurückreicht. 1922 wurde die Sowjetunion gegründet, das Grab des Tutanchamun entdeckt – und Papst Benedikt XV. sowie Karl I. von Österreich, der letzte Kaiser und König von Ungarn, starben. Ein ganzes Jahrhundert voller Erfahrungen liegt hinter ihr.
Vor einem Jahr bezog Schmidhauser ihr Zimmer im Alterszentrum Lindenhof in Rümlang. Zuvor meldete sie sich über ein Jahrzehnt immer wieder an, schob den Umzug aber stets auf. Bis dahin führte sie ihren Haushalt selbst und erledigte ihre Einkäufe allein. «Hier kann ich mit niemandem über Sport reden», sagt sie und verzieht kurz das Gesicht. «Auch mit den Männern nicht. Die verstehen nicht viel davon. Entweder schlafen sie oder sind müde. Das ist bitter.»
Versuch, Anna Schmidhauser die Kinder zu nehmen
Unzufrieden ist die rüstige Rentnerin dennoch nicht. «Nein, nein», winkt sie ab. «Alle sind nett und zuvorkommend. Und ich habe eine schöne Aussicht.» Sie zeigt Richtung Flughafen Kloten, wo unablässig Flugzeuge starten und landen. «Ich winke immer den Piloten, aber sie winken nie zurück.» Dann lächelt sie. «Es ist schön, nicht mehr krampfen zu müssen. Ich habe lange hart gearbeitet, habe drei Kinder allein und ohne Unterstützung grossgezogen.»

Ein Herz und eine Seele: Anna Schmidhauser und ihre Enkelin Lara Guggenbühl – Lara im ZSC-Pullover.
Foto: Sabine Rock
Mit Männern, sagt sie offen, hatte sie kein Glück. Kurz nach der Geburt ihrer Zwillinge verliess ihr Mann die Familie. Lange wusste sie nicht, wo er sich aufhielt. Später erfuhr sie, dass er sich der Fremdenlegion angeschlossen hatte. «Ich habe ihn nie wieder gesehen. Aber das war auch nicht nötig», sagt sie trocken.
Als alleinerziehende Mutter hatte Schmidhauser es nicht leicht. 33 Jahre lang arbeitete sie als Abwartin und Reinigungskraft – und fehlte keinen einzigen Tag. Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder stets sauber und ordentlich gekleidet zur Schule gingen. Dennoch habe eine Unterschriftenliste kursiert, um ihr die Kinder wegzunehmen. Zum Glück ohne Erfolg. «Das wäre schlimm gewesen», sagt sie ruhig. «Es ist gut ausgegangen.»
Stolz verweist sie auf ihre Töchter, Enkel und Urenkel. Neulich zeigte ihr der sechsjährige Ramon ein Dinosaurierbild und meinte: «Der ist gleich alt wie du, Urgrosi.» Schmidhauser lacht. «Dabei bin ich doch kein Dinosaurier!»
Sie verehrte Eishockey-Kultfigur Elik
Ihre Liebe zum Sport prägte sie von klein auf. Als Kind begleitete die gebürtige Stadtzürcherin ihren Vater regelmässig auf die offene Velo-Rennbahn in Oerlikon. Sie erinnert sich, wie sie Ferdy Kübler nach einem Sieg ein paar Landjäger schenkte – und wie er ihr Jahre später noch zurief, wie gut sie geschmeckt hätten. Auch Freistilringen, Boxkämpfe und Formel-1-Rennen verfolgte sie mit Begeisterung.
Sechsmal war Schmidhauser am Grand Prix in Österreich, sechsmal am Hockenheimring und dreimal in Monza. Sie hatte die Ehre, mit Niki Lauda in der Boxengasse zu plaudern. Und sie stand am Streckenrand, als Ronnie Peterson 1978 beim GP von Italien in eine Massenkarambolage geriet, sein Wagen Feuer fing und er tags darauf verstarb.
Im Fussball drückt Schmidhauser dem FC Schalke 04 und dem sächsischen Verein Erzgebirge Aue die Daumen – Letzterem, weil ihr der Name so gut gefiel. Als sie hört, dass auf dem Weg nach Rümlang ein Fahrzeug mit dem Schriftzug «Erzgebirge Aue» gesichtet wurde, beginnen ihre Augen zu leuchten. «Ich hätte den Fahrer sofort angehalten und gefragt, wie es so läuft.» Warum sie dem uruguayischen Nationalteam die Treue hält, ist einfach erklärt: «Die haben die schönsten Männer.»
Vor allem aber erzählt sie von den grossen Zeiten des Schweizer Eishockeys: vom legendären «Ni-Sturm» um Hans Cattini, Bibi Torriani und Pic Cattini beim HCD – und vom «Er-Sturm» mit Hertli Kessler, Charly Kessler und Heini Lohrer beim ZSC. Sie alle entfachten ihre Liebe zum Eishockey. Die Leidenschaft für Langnau kam in den 1970er-Jahren – wegen Rolf Tschiemer. Später zog Langnaus Kultfigur Todd Elik sie in seinen Bann. «Ich verehrte ihn wie einen Gott. Und dazu war er gut aussehend.»
Vor Langnaus Präsidenten sprachlos
Heute, wenn die Tigers in Zürich-Altstetten spielen, ist sie fast immer dabei – gemeinsam mit ihrer Enkelin Lara. Kürzlich durfte sie nach dem Spiel dem ZSC-Stürmer Vinzenz Rohrer den Preis für den «Coolest Skorer» überreichen. Einmal im Jahr reist sie mit Lara ins Emmental, wo SCL-Präsident Peter Jakob ihr jüngst ein von der Mannschaft signiertes Trikot schenkte. Schmidhauser war überwältigt: «Wenn so grosse, prominente Persönlichkeiten vor mir stehen, verschlägt es mir die Sprache.»
Ob sie bei Spielen, die bis nach 22 Uhr dauern, nicht müde werde? Sie winkt ab. «Im Gegenteil: Ich werde immer fitter. Und nach dem Spiel gehen wir in die Beiz.» Was sie in der «Sportsbar 1930» jeweils bestelle, fragt die Enkelin. «Gin Tonic», antwortet die Grossmutter – und verweist auf die Mutter von Queen Elizabeth II, die das Getränk ebenfalls mochte.
Dass ihre Enkelin dem ZSC die Daumen drückt, ist für sie kein Problem. «Wir haben nie Krach. Und ich habe sogar schon geklatscht, wenn der ZSC ein Tor schoss. So ernst muss man das alles nicht nehmen.» Dann räumt sie ein: «Aber wenn es um den Meistertitel geht, sind wir schon anders.»
Auch Schmidhauser selbst war zeitlebens sportlich und unternahm oft ausgedehnte Velotouren. An eine erinnert sie sich besonders: von Zürich nach Andermatt – und zurück, am selben Tag. Glauben will ihr das kaum jemand. «Alle deine drei Töchter glauben dir das nicht», wirft Enkelin Lara ein. Schmidhauser schüttelt den Kopf. «Sie sagen, es sei zu weit für einen Tagesausflug. Aber damals hatten wir kein Geld, um auswärts zu übernachten. Getrunken haben wir aus Brunnen, und als Verpflegung gab es Fleischkäse und Brot.»
In mehr als 100 Jahren hat sie viel erlebt, nicht zuletzt den rasanten technologischen Fortschritt. Manchmal, sagt sie, schien es ihr zu schnell zu gehen. «Aber du musst mit der Zeit gehen, sonst bist du verloren.»
Sie erinnert sich, wie sie die Wäsche von Hand wusch und das Wasser im Kessel erhitzte. Die beste Erfindung aber sei nicht die Waschmaschine, das Telefon oder der Fernseher – nein: der Rollator. «Sicher!», bekräftigt sie. «Früher sind die alten Leute gestürzt, jetzt können sie sich festhalten. Und im Wagen kannst du alles verstauen.»
Anna Schmidhausers Rezept für ein langes Leben
Anna Schmidhauser ist zufrieden mit ihrem Leben. Gehadert hat sie nie. «Du musst alle Lebenslagen durchmachen. Dann bist du wer», sagt sie. «Wenn du dich gehen lässt und in Selbstmitleid verfällst, hilft das nichts. Wichtig ist, dass du zufrieden bist und nicht aus jeder Mücke einen Elefanten machst.»
Einen Traum hat sie dennoch: «Wenn ich noch einmal auf die Welt kommen würde, würde ich all mein verdientes Geld zur Seite legen und dann nach Grindelwald ziehen.» Die Eigernordwand imponiert ihr zutiefst. Sie hat viele Bücher darüber gelesen und stand einmal selbst davor. «Eine Wucht», sagt sie.
Ihre Mutter wurde knapp 105 Jahre alt – «zwei Monate fehlten ihr». Auch sie will dasselbe Alter erreichen. «Aber es muss mir gut gehen», schränkt sie ein. «Wenn ich nur noch so im Stuhl herumsitze, macht es keinen Sinn.»
Wie man solch ein biblisches Alter erreicht? Anna Schmidhauser überlegt kurz, zuckt dann mit den Schultern. Enkelin Lara erinnert sich jedoch an etwas, das Schmidhauser einst dem ZSC-Stürmer Denis Malgin antwortete. «Wegen der schönen Männer», sagt Schmidhauser. «Ja klar, man muss doch ehrlich sein.»


