Die Konsequenz Crawfords verdient grossen Respekt
Der 63-jährige Kanadier galt lange als Trainer alter Schule, nun hört er aus psychischen Gründen auf. Dass er Schwäche eingesteht, lässt aufhorchen. Und es spricht für ihn.
Simon Graf
Publiziert: 30.12.2024, 19:44
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Es dürfte das Ende einer langen Eishockey-Karriere sein: Marc Crawford ist nicht mehr Trainer der ZSC Lions.
Foto: Patrick Straub (Freshfocus)
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In Kürze:
- Marc Crawford tritt als Trainer der ZSC Lions aus persönlichen Gründen zurück.
- Seine Tochter Kaitlin inspirierte ihn, seine Gefühle offen zu zeigen.
- Marco Bayer übernimmt nun als Coach, um das Team erfolgreich weiterzuführen.
Gegen aussen wirkte Marc Crawford in den vergangenen Monaten wie immer. Er lebte während der ZSC-Spiele mit wie eh und je, nervte sich über strittige Entscheide der Schiedsrichter und war nach den (wenigen) schwachen Leistungen seines Teams kurz angebunden. Doch in ihm tobte ein Kampf.
Der Kanadier spürte, dass er in seinem 34. Trainerjahr nicht mehr das nötige Feuer für diesen emotional so herausfordernden Job hat. Plötzlich wurde für ihn vieles zur Qual, was vorher selbstverständlich gewesen war. Er stellte sich grundsätzliche Fragen zu sich, zu seiner Lebensführung und seinen Liebsten und hoffte, diese Saison irgendwie noch durchzustehen. Doch über Weihnachten wurde ihm klar: Es geht nicht mehr.
Nach dem letzten Spiel des Jahres, am 23. Dezember gegen die Rapperswil-Jona Lakers (4:1), reiste Crawford zurück nach Vancouver. Er hatte zuvor schon offen mit Sportchef Sven Leuenberger über seine Probleme gesprochen und sich von ihm verabschiedet mit den Worten, er werde sich nochmals alles gründlich durch den Kopf gehen lassen. Im Kreise seiner Familie fasste er dann endgültig den Entscheid, per sofort als ZSC-Trainer zurückzutreten. Dies teilte er Leuenberger am 26. Dezember telefonisch mit. Für ihn übernimmt bis Ende Saison Marco Bayer, der bisher die GCK Lions in der Swiss League coachte.
«Er war megaoffen», sagt ZSC-Captain Geering
Als die ZSC Lions am Montag ihr Training wieder aufnahmen, gab der Club den Rücktritt seines zweifachen Meistercoaches bekannt. Die Mannschaft erfuhr davon um die Mittagszeit, bevor sie aufs Eis ging. Crawford wurde per Video zugeschaltet, erläuterte seine Gründe und wünschte dem Team viel Glück. «Er war megaoffen uns gegenüber», sagt Captain Patrick Geering. «Aber was er zu uns gesagt hat, bleibt in der Kabine. Ich finde es mutig von ihm, dass er zu sich und seiner Familie steht und diesen Schritt gemacht hat. Das gibt es in der Businesswelt immer wieder. Wieso also nicht auch im Eishockey?»
Aber was genau plagte Crawford? Der 63-Jährige verabschiedete sich auf eigenen Wunsch in einem offenen Brief von den ZSC-Fans und der Organisation. Darin schrieb er: «In den letzten Monaten habe ich intensive Therapie in Anspruch genommen, um die Gründe meiner eigenen mentalen Gesundheit zu verstehen. Dieser Prozess war sowohl herausfordernd als auch aufschlussreich – für mich als Coach, Ehemann, Vater, werdender Grossvater und letztlich als Mensch. Ich freue mich darauf, mehr Zeit mit meiner Familie zu verbringen und als mental gesunder Mensch weiter zu wachsen.»
Crawford entstammt einer Hockey-Familie, der Sport war sein Leben, und er wuchs in einer Zeit in die Trainerrolle hinein, als man die Spieler noch härter anfasste als heute. Der Erfolg gab ihm recht. Er führte Colorado 1996 zum Stanley-Cup, wurde zum besten NHL-Coach ausgezeichnet und zum Trainer des kanadischen Olympiateams erkoren. Doch 2019 wurde er von den Chicago Blackhawks suspendiert wegen fragwürdiger Coachingmethoden in der Vergangenheit. Er zeigte sich reuig und sagte, dass er schon länger in Therapie sei.
Dass er sich hinterfragte und entwickelte, zeigte sich auch, als er im Dezember 2022 zu den ZSC Lions zurückkehrte. Er war immer noch konsequent wie in seinen ersten vier Zürcher Jahren (von 2012 bis 2016), aber viel nahbarer für die Spieler. Als er die Zürcher in diesem Frühjahr zum zweiten Mal zum Titel führte, sagte er in der Meisternacht im TV-Interview gegenüber Mysports: «Ich hatte meinen Spielern nie gesagt, dass ich sie liebe. Dieses Jahr habe ich es getan.»
Familienfreuden in der Meisternacht 2024: Tochter Kaitlin (links) erlebte erstmals einen Titel ihres Vaters Marc live.
Foto: Screenshot Mysports
Seine Einsicht hatte auch mit seiner Tochter Kaitlin zu tun, die kürzlich im englischen Bath ihren Doktortitel in Sportpsychologie erworben hat. «Sie ermunterte mich, meine Gefühle auszudrücken», sagte er vor Saisonstart gegenüber dieser Redaktion. «Ich nahm es mir zu Herzen. Die Jungs fanden das vielleicht komisch, weil ich nicht gerade der Typ bin, der seine weiche Seite zeigt. Aber es war gut, ihnen zu zeigen, dass auch ich ein Mensch mit Gefühlen bin – und nicht nur der Typ, der immer herumschreit.»
In den vergangenen Monaten begann sich Crawford nun in der Trainerrolle zunehmend unwohler zu fühlen. Gegenüber dem Team habe er sich nicht gross etwas anmerken lassen, sagt Geering. «Dass er von heute auf morgen zurücktrat, überraschte uns. Für ihn war es natürlich ein viel längerer Prozess. Aber wir waren nicht Teil davon.»
Die Probleme kamen bei Crawford im Herbst schleichend. Zuletzt tat er sich immer schwerer in der täglichen Arbeit, doch die Assistenzcoaches Rob Cookson, Fabio Schwarz und Magnus Wennström glichen vieles aus. Er habe gehofft, es lasse sich nochmals einrenken, sagt Leuenberger. Doch schliesslich sagte Crawford zum Sportchef: «Ich verlange von allen 100 Prozent, aber ich merke, ich kann nicht mehr 100 Prozent geben. Deshalb muss ich aufhören.»
Ein Abtritt ohne Happy End
Diese Konsequenz verdient grossen Respekt. Und sie markiert im Leben des 63-Jährigen eine Zäsur. Denn er sagte mehrfach, dass die ZSC Lions seine letzte Trainerstation sein würden. Er, der grosse Kino-Liebhaber, tritt also ohne Happy End ab. Und dass ausgerechnet er, der lange als Hardliner galt, als Coach alter kanadischer Schule, nun Schwäche eingesteht, lässt aufhorchen. Und es spricht für ihn als Menschen.
Für Marco Bayer, der ihn als Chefcoach der ZSC Lions beerbt, ist dies nun eine grosse Chance. Der 52-Jährige, der die GCK Lions im vergangenen Winter in den Final der Swiss League dirigierte, hat an der Bande schon vieles erlebt, aber noch nie ein National-League-Team geführt. Er übernimmt ein intaktes Team, das die Liga anführt und in der Champions League im Halbfinal steht und da auf Titelverteidiger Servette trifft.
Bayer habe die Möglichkeit, sich als Coach für die nächste Saison zu empfehlen, sagt Leuenberger. «Jetzt gilt es, den Weg, den wir eingeschlagen haben, weiterzuführen. Bayer ist sehr strukturiert, aber er ist kein lauter Coach. Er wird niemanden anschreien.»
Bleibt den ZSC Lions zu wünschen, dass ihre Spieler auch mit leiseren Tönen umgehen können.