Der weggeworfene ZSC-Sieg
Trotz Unfug in Ambri sind die Lions gut unterwegs
Auch weil Trainer Marc Crawford die Breite im Zürcher Kader nutzt, gefällt die Mannschaft bislang. Das Spiel im Tessin kann als Lehrstunde positive Folgen haben.
Kristian Kapp
Publiziert heute um 20:49 Uhr
Schockmoment für den ZSC: Dean Kukan ist am Boden, Rudolfs Balcers sinniert über seinen Fehlpass, während Ambris Laurent Dauphin (links) und Dario Bürgler das 3:3 von Michael Spacek (nicht im Bild) feiern.
Foto: Marusca Rezzonico (Freshfocus)
Es ist natürlich der letzte Eindruck vom Wochenende, der für diesen schalen Nachgeschmack sorgt: Der ZSC verlor in Ambri mit 3:4 nach Verlängerung, und das Ärgerlichste daran war nicht einmal, dass die Lions drei Minuten vor Schluss noch 3:1 führten. Nein, was die zweistündige Zugfahrt zurück aus dem Tessin (ja, der ZSC war für einmal mit der Bahn unterwegs) gefühlt einiges länger gemacht haben dürfte, war die Art und Weise des vier Sekunden vor Ende kassierten Ausgleichstreffers.
So wirft der ZSC in Ambri den Sieg weg
Aus der Sicht von Goalie Simon Hrubec: Rudolfs Balcers bleibt mit seinem Pass hängen, vier Sekunden vor Ende des Spiels liegt der Puck zum 3:3 im Zürcher Tor.
Video: MySports
Denn drei Sekunden zuvor war der ZSC noch in Puckbesitz, Rudolfs Balcers hätte die Scheibe in die Zone Ambris chippen und das Spiel damit mit einem 3:2-Sieg seines Teams beenden können. Doch er entschied sich mit Denis Malgin für die Variante Empty Netter und blieb mit seinem riskanten Backhandpass mitten in der eigenen Zone prompt an Ambris Verteidiger Tim Heed hängen. Wahnsinn statt Genie, Überheblichkeit statt Souveränität, Skorerpunkt statt Sieg vor Augen – noch selten dürfte ein Sieg derart fahrlässig weggeworfen worden sein.
Die bestmögliche Lehrstunde
Marc Crawford dürfte sich über die zwei verlorenen Punkte (wann war die eigentlich unsinnige Formulierung «verlorene Punkte» derart zutreffend?) im ersten Moment geärgert haben. Seiner Mannschaft war zudem auswärts gegen einen aufsässigen und leidenschaftlich spielenden Gegner fast ein ganzes Spiel lang eine vorzügliche Leistung gelungen, ohne sich dafür zu belohnen. Sie machte in der stürmischen Anfangsphase Ambris mit kämpferischer Gegenwehr und vielen geblockten Schüssen genauso alles richtig wie ab dem Mitteldrittel, als sie nach und nach die fast totale Kontrolle über die Partie übernahm und auf Kurs war zu einem ungefährdeten Sieg.
Doch schon eine Nacht Schlaf später dürfte der ZSC-Trainer auch positive Schlüsse aus dem weggeworfenen Sieg gezogen haben. Denn kaum ein anderes Spiel in dieser Saison dürfte sich besser eignen, um es seiner Mannschaft künftig als Lehrstunde vorzuhalten. Dass Crawford in der engen Schlussphase mit Balcers und Malgin zwei Offensivstars einsetzte, ist nachvollziehbar, da diese speziellen Shifts immer auch Zeichen des Vertrauens Richtung der Spieler sind. Auch Künstler sollen spüren, dass sie in allen Lagen wichtig sind.
Mit Biss unterwegs: Reto Schäppi beschäftigt Ambris Goalie Benjamin Conz.
Foto: Marusca Rezzonico (Freshfocus)
Doch wenn dieses Vertrauen missbraucht wird, kann Crawford bei nächster Gelegenheit mit identischer Ausgangslage andere Stürmer aufs Eis schicken – Stürmer, die unspektakulär «langweilig» nur an den Sieg denken und entsprechend handeln. Center Reto Schäppi zum Beispiel, der, obwohl in ungewohnter Flügelstürmer-Rolle eingesetzt, im Schatten aller offensiven Genies im Team zu den stillen Gewinnern unter Crawford gehört. Gemäss offizieller Statistik der National League ist Schäppi jener Angreifer, mit dem der ZSC am wenigsten Gefahr vor dem eigenen Tor befürchten muss – ligaweit ist der 32-jährige Routinier in dieser Kategorie die Nummer 4.
Die schier unendliche Breite in der ZSC-Offensive: Crawford hat sich bislang nicht gescheut, sie zu nutzen. Als Stammkräfte wie Malgin, Sven Andrighetto oder Juho Lammikko fehlten, fanden sich junge Stürmer wie Vinzenz Rohrer (19) oder Joel Henry (20) im Powerplay wieder. Der Österreicher Rohrer verlor seinen bislang sogar fixen Platz im Überzahlspiel erst letzten Freitag, als Andrighetto nach langer Verletzungspause sein Saisondebüt gab.
Im Konkurrenzkampf um einen Platz in den vier Sturmreihen rotieren gestandene Spieler wie Simon Bodenmann und Yannick Zehnder mit Jungen wie Nicolas Baechler (20) oder Henry, auch Justin Sigrist oder Willy Riedi können sich ihres Platzes nicht sicher sein. Und Spieler wie Jérôme Bachofner oder Kyen Sopa spielen seit Saisonbeginn gar keine Rolle mehr.
Selbst in der Abwehr ist ein Rennen um Einsatzzeit im Gange, in Ambri musste gar Captain Patrick Geering seine Eiszeit mit dem 7. Verteidiger Phil Baltisberger teilen und kam nur auf knapp acht Minuten. Baltisberger selbst war am Freitag gegen Langnau überzählig, um Platz für das 17-jährige Talent Daniil Ustinkov zu schaffen. Es geht was in der ZSC-Aufstellung, es ist jene Dynamik im Gange, die man sich in Zürich erhofft hatte.
Es sind auch Zeichen an die Konkurrenz, wie stark und unberechenbar im positiven Sinne die Zürcher auftreten können – selbst wenn sie wie in den Schlusssekunden in Ambri groben Unfug veranstalten. Sie gefielen selbst bei weiteren Niederlagen wie gegen Davos und Zug mit phasenweise derart druckvollem Spiel, dass der Gegner nur noch reagieren und in den Überlebensmodus schalten konnte, um nicht komplett überrollt zu werden.
Auch die Liga-Analytics bestätigen diesen Eindruck: Bei 5-gegen-5-Hockey sind die Zürcher nicht nur grundsätzlich das mit Abstand torgefährlichste Team. Sie sind auch die Nummer 1, wenn es um Druckphasen mit Puckbesitz geht, und die Nummer 2 im Konterspiel. Sie gehören gleichzeitig in allen Situationen zu den am besten verteidigenden Mannschaften und sind mit Abstand die Besten im Penalty-Killing, wenn es um zugelassene Torgefahr geht. Die Kalberei in Ambri soll also nicht darüber hinwegtäuschen: Die ZSC Lions sind gut unterwegs.