Huldrych Günthard zur neuen Corona-Variante: «Ich glaube nicht, dass es wieder gefährlich wird»
Eine neue Omikron-Subvariante gibt zu reden. Der Zürcher Arzt und Forscher Huldrych Günthard schätzt die Situation ein und erklärt, warum die Impfung als Booster des Immunsystems an Stellenwert eingebüsst hat.
Alan Niederer01.09.2023, 09.53 Uhr
6 min
Einweghandschuhe: nur eines der Mittel, um Krankheitserreger von sich und anderen fernzuhalten.
Christian Beutler / Keystone
Herr Günthard, die Pandemie ist seit Mai offiziell vorbei, nach mehr als drei Jahren. Seit einigen Tagen ist Corona aber wieder ein Thema, eine neue Virus-Subvariante macht von sich reden. Stellt Sars-CoV-2 weiterhin eine Gefahr dar?
Im Moment nicht. Ich glaube auch nicht, dass es wieder gefährlich wird. Die Immunität in der Bevölkerung ist so gut, dass das Virus uns nicht mehr so krank machen kann, wie wir das während der Pandemie erlebt haben.
Was macht Sie so zuversichtlich?
Inzwischen haben die allermeisten Menschen einen oder mehrere Kontakte mit dem Virus gehabt, sei es über Infektionen oder die Impfung. Das hat dazu geführt, dass schwere Verläufe, wie wir sie früher gesehen haben, nicht mehr auftreten. Eine Ausnahme bilden Risikopatienten. Aber auch sie haben heute meist einen milderen Verlauf, wenn sie hospitalisiert werden müssen.
Huldrych Günthard: Während der Pandemie übte der Infektiologe am Zürcher Universitätsspital keine offizielle Funktion aus. Er konzentrierte sich auf die Arbeit am Patientenbett und die Forschung.
PD
Der amerikanische Infektiologe und Präsidentenberater Anthony Fauci schätzt, dass in den USA rund 96 Prozent der Menschen eine Immunität gegen das Coronavirus aufgebaut haben. Wie sieht es in der Schweiz aus?
Das dürfte im gleichen Bereich liegen. Wir haben sicher nicht schlechter geimpft als in den USA. Die Omikron-Subvarianten haben dann noch die restliche Immunität ausgelöst, als sie in mehreren Wellen um die Welt gingen.
Omikron ist ein gutes Stichwort. Die neue Virus-Subvariante, die gerade durch die Medien geistert, heisst BA.2.86. Sie weckt bei einigen Forschern Erinnerungen an den November 2021, als in Südafrika die Omikron-Variante erstmals auftauchte und danach weltweite Ausbrüche verursachte. Könnte sich das mit BA.2.86 wiederholen?
Das ist möglich, aber ich glaube das eher nicht. Die Forscher kommen auf diese Idee, weil BA.2.86 mehr als 30 Mutationen angehäuft hat. Damit ist der Unterschied zum Vorläufer-Virus ähnlich gross, wie der Unterschied zwischen der Delta- und der Omikron-Virus-Variante war. Bei einem solchen Vergleich muss man aber berücksichtigen, dass in der Zwischenzeit bei der Immunität viel passiert ist. Zudem bedeuten neue Mutationen nicht automatisch, dass sich ein Virus auch einfacher verbreiten kann.
Sie sind also nicht beunruhigt?
Das Virus ist weltweit erst in ein paar wenigen Fällen nachgewiesen worden. Ob es sich gegen andere Subvarianten durchsetzen wird, ist noch völlig offen. Schliesslich treten ständig neue Subvarianten auf, über die wir nicht sprechen. Darunter sind auch solche mit relativ vielen Mutationen. Die allermeisten verschwinden wieder.
In der Schweiz hat man BA.2.86 offenbar im Abwasser entdeckt.
Ja, zum Beispiel in Laupen bei Bern. Beim Menschen ist es in der Schweiz aber bisher nicht isoliert worden.
Das dürfte doch eine Frage der Zeit sein. Wenn es im Abwasser ist, muss es auch im Menschen zirkulieren . . .
Davon ist auszugehen. Dass wir es noch nicht isoliert haben, dürfte auch damit zu tun haben, dass wir heute nur noch wenige Corona-Tests und Sequenzierungen durchführen.
BA.2.86 könnte wieder verschwinden oder dann eine weltweite Infektionswelle verursachen: Gibt es auch ein Szenario dazwischen?
Bestimmt. Das Coronavirus verändert sich ständig, da kommen auch Zwischenformen vor. Eine solche dürfte die EG.5-Subvariante sein, die auch Eris genannt wird. Die hat nicht viele Mutationen und macht auch nicht stärker krank als andere Omikron-Subvarianten. Dennoch verbreitet sie sich gerade, auch in der Schweiz.
Sind die Fallzahlen wieder am Steigen?
Die Abwasserdaten weisen teilweise in diese Richtung. Wir könnten am Anfang einer neuen Infektionswelle stehen. Im Universitätsspital Zürich sehen wir aber noch nicht viel davon. In den letzten Monaten hatten wir meist so um die drei bis fünfzehn Patienten, die mit Corona hospitalisiert waren. Die Zahlen sind insgesamt nicht mehr sehr aussagekräftig, da wir schon länger nicht mehr systematisch testen. Aber ja, im Moment nehmen die Zahlen eher zu als ab.
Seit Omikron zirkuliert, sind alle neuen Sars-CoV-2-Viren Abkömmlinge dieser Variante. Das immer wieder an die Wand gemalte Gespenst vom gefährlich mutierten Virus ist bis jetzt nicht aufgetaucht. Kann sich das noch ändern?
Ich rechne nicht damit. Delta war wahrscheinlich die aggressivste Corona-Variante, die wir hatten. Die anschliessenden Omikron-Subvarianten machten alle weniger krank. Zumindest bei uns. In Hongkong, wo Omikron auf eine praktisch nicht immune Bevölkerung stiess, war das anders. Da sind viele Menschen gestorben.
Wird auch unsere Immunität wieder abnehmen?
Die T-Zellen, die vor einer schweren Erkrankung schützen, sind sehr robust und breit aufgestellt. Bis jetzt hat keine Corona-Variante diesen Schutzschild durchbrechen können. Diese Immunzellen sind auch relativ langlebig und werden bei jedem erneuten Kontakt mit dem Virus schnell wieder aufgebaut. Das ist für das Immunsystem ein natürlicher Booster.
Wird dadurch die Corona-Impfung als künstlicher Booster an Stellenwert verlieren?
Das glaube ich, denn die Situation hat sich bei diesem Virus fundamental verändert. Am Anfang hat die Impfung sehr viele Leben gerettet. Und man hat damit hohe Infektionswellen brechen können. Heute ist der Impf-Booster vor allem für Risikopatienten wichtig. Zum Beispiel Menschen mit transplantierten Organen oder solche mit immunsuppressiven Medikamenten wegen anderer Krankheiten, alte Menschen und solche mit Vorerkrankungen. Der gesunden, jüngeren Bevölkerung wird man die Impfung wahrscheinlich nicht mehr empfehlen.
Das Pandemievirus ist in den letzten drei Jahren deutlich harmloser geworden. Wie sind seine krank machenden Eigenschaften heute einzuschätzen?
Es ist wahrscheinlich nicht mehr gefährlicher als andere respiratorische Erreger. Kommt dazu, dass wir bei Corona, anders als etwa bei der Grippe, relativ gute Medikamente wie Paxlovid haben. Damit lässt sich bei frühzeitigem Einsatz das Risiko für eine Hospitalisation und das Sterberisiko bei vulnerablen Personen stark senken.
Sars-CoV-2 werde sich letztlich zu einem harmlosen Schnupfenvirus entwickeln, hiess es immer. Sind wir an diesem Punkt angelangt?
Vielleicht noch nicht ganz, aber von der Schwere der Krankheit sind wir nahe dran.
Gibt es seit der Omikron-Variante auch weniger Long-Covid-Fälle?
Ich habe den Eindruck, dass das Risiko für Long Covid abgenommen hat. So liegt bei vielen unserer Long-Covid-Patienten die Infektion schon länger zurück. Es gibt auch Hinweise, dass die Impfung einen Teil der Long-Covid-Fälle verhindert hat. Leider ist die wissenschaftliche Datenlage ungenügend, um das hieb- und stichfest zu beweisen.
Woran liegt das?
Die Symptome von Long Covid sind unspezifisch, und ein Teil der Patienten hat auch andere Krankheiten. Für eine aussagekräftige Studie braucht man deshalb grosse Patientenzahlen, und die Betroffenen müssen auf allen Ebenen medizinisch und psychologisch abgeklärt werden. Es reicht nicht, die Patienten nur nach ihren Beschwerden zu befragen.
Bei Aids hat man es geschafft, ein solches Forschungsprojekt auf die Beine zu stellen. Mit der schweizerischen HIV-Kohortenstudie war unser Land weltweit führend.
Eine solche Kohorte wäre auch bei Long Covid der richtige Weg gewesen. Ich habe mir früh überlegt, das zu machen, aber ich hatte keine Kapazität. Die Situation war damals so verrückt, dass meine Kräfte nicht ausreichten, um ein solch riesiges Projekt aufzubauen.
Eine Frage zur Impfung: Man hat viel darüber gesprochen, wie wichtig es sei, diese rasch an die zirkulierenden Coronaviren anzupassen. Wie sieht man das heute?
Die angepassten Impfstoffe haben nicht so viel gebracht, wie man sich das erhofft hat. Auch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir mit der Impfung die Ansteckung mit dem Virus nicht vollständig verhindern können oder jedenfalls nur sehr kurz. Denn die dafür nötigen neutralisierenden Antikörper werden relativ rasch wieder abgebaut.
Das wird als Manko der Impfung angesehen. Könnte der rasche Abbau der Antikörper auch biologisch sinnvoll sein?
Das ist denkbar. Unser Körper wird ja ständig bombardiert mit Erregern und Fremdeiweissen, denken Sie nur an den Darm. Um alle diese Gefahren in Schach zu halten, muss das Immunsystem ständig Leistung erbringen. Da kann es bei einigen Erregern sinnvoll sein, das System nur kurz hochzufahren und dann wieder zurückzunehmen. Aus Effizienzgründen. Aber auch, weil die durch das Immunsystem angestossene Entzündungsreaktion Organe schädigen kann, gerade wenn sie längerfristig anhält. Ausserdem könnte es auch gute Gründe geben, warum wir immer wieder eine Infektion bekommen. Wir sind einfach keine sterilen Wesen.