Der ganze Stolz von Oma Frieda
Mark Streit ist bei den New York Islanders in die Rolle eines geachteten NHL-Captains und Mentors gewachsen
VON SILVAN SCHWEIZER
UNIONDALE Es ist ein rauer Nachmittag draussen vor den Toren New York Citys. Im Bauch des alten Nassau Coliseum schauen sich die Spieler der Islanders eine Stunde lang Videos von krachenden Checks an – harte korrekte und dumpfe böswillige. Brendan Shanahan, der einstige NHL-Star und nun Einzelrichter, ist zu Besuch und hält einen Vortrag. Mark Streit, der Captain, verlässt den Anschauungsunterricht wie gewohnt als Letzter und berichtet danach: «Das war wichtig. Man muss die Spieler mit solchen Szenen konfrontieren, muss sie schulen. Denn es gibt welche, die unverbesserlich sind.»
Das Thema Checks und Verletzungen löst bei Streit immer noch ein Gefühl der Ohnmacht aus. Die komplette vergangene Saison verpasste der 34-jährige Berner wegen einer komplizierten Schulterverletzung. Er hatte sie in der Vorbereitung bei einem unglücklichen Zusammenprall mit einem Teamkollegen erlitten.
Wie einer, der nach einem Jahr Pause am Lauberhorn fährt
Der Wiedereinstieg sei danach eine grosse Herausforderung gewesen, erzählt der Verteidiger. «Ich war ja auch ein Jahr weg gewesen vom ganzen Mannschaftsleben. Und auf dem Eis musste ich wie von neuem beginnen, mein Timing wieder finden.» Er überlegt kurz und findet dann einen passenden Vergleich: «Wenn einer ein Jahr nicht mehr Ski fährt und danach am Lauberhornrennen mitmacht, wird er wohl auch nicht gleich gewinnen.»
Streit wirkte deshalb in diesem Winter lange nicht so selbstsicher am Puck wie zuvor, er konnte auch nicht mehr an seine frühere Punktequote anknüpfen. «Ich beging Fehler, die für mich unerklärlich waren», sagt der Berner. Er fing sich eine der schwächsten Plus-Minus-Bilanzen der NHL ein (–20). «Das passt mir natürlich nicht, aber ich kenne die Gründe», sagt Streit. Er sei wohl bereits zehnmal auf dem Eis gestanden, als sein Team einen Treffer ins verlassene Tor kassierte.
Es benötigte den Motor Streits, der langsam warm lief, und die Brillanz des besten Stürmers, des erst 21-jährigen John Tavares, dass sich auch die Mannschaft steigerte. Mittlerweile haben die Islanders nur noch acht Punkte Rückstand auf einen PlayoffPlatz. «Seit zwei Monaten spielen wir besser. Wir haben dazugelernt, wir sind cleverer geworden», sagt Streit. Seit der AllstarPause fühlt er sich wie der Alte. Gestern entschied er die Partie gegen Los Angeles mit einem herrlichen Tor. Mit 31 Punkten ist er unter den Verteidigern bereits die Nummer 10 der Liga.
Es hatte auch seine Zeit gebraucht, bis Streit mit seiner Rolle als Captain zurechtkam. Ein Meilenstein, ja eine Riesenehre sei es gewesen, in einem geschichtsträchtigen Klub wie den Islanders dieses Amt übernehmen zu dürfen. Aber eben auch ein Findungsprozess. Denn was für ein Anführer wollte er sein? «Es gibt jene, die das Herz eher auf der Zunge tragen. Und jene, die eher ruhig sind», erklärt er. Er trage beide Komponenten in sich. Auch er kann mal laut werden. Aber er verliert nicht mehr so rasch die Nerven wie damals als 25-jähriger Captain bei den ZSC Lions. Da haute er im Ärger schon mal einen kleinen Materialwagen kaputt, der ihm im Weg stand.
«Ich kann nicht nur mit der Peitsche knallen, sonst nehmen mich die Jungs nicht mehr ernst», sagt Streit nun. «Ich muss viel reden, spüren, was das Team braucht. Wenn es einmal nicht so gut läuft, versuche ich, die Jungs anzufeuern, die richtigen Worte zu finden.» Er hat rasch gemerkt, dass alles einfacher wird, wenn er selbst besser spielt: «Wenn ich alles gebe und eine gute Leistung abliefere, sehen das die anderen. Und es ermutigt sie.» Streit braucht diesen Antrieb, besser zu werden, er hat ihn seine Karriere lang begleitet: «Ich bin einer, der gefordert werden muss. Das hält einen ehrlich.»
Seine Art kommt an, Starstürmer Tavares jedenfalls hat nur die besten Worte für den Schweizer übrig: «Er ist eine grosse Persönlichkeit – wie er die Menschen behandelt, seine Generosität. Wenn er etwas sagt, legst du deine Sachen weg und hörst zu. Du weisst, es kommt etwas Wichtiges, denn es kommt von Herzen.»
Tavares und Streit sind die beiden Spieler, welche bei den Islanders die meisten Interviews geben müssen. «Zu mir kommen die Journalisten aber vor allem, wenn wir verlieren», sagt Streit. «Da musste ich lernen, wenn ich nach einem Match wirklich sauer war, mein Temperament im Zaum zu halten.» Zu seinen weiteren Aufgaben als Captain gehörte zum Beispiel, den internen Bussenkatalog abzusegnen. Er organisierte die Räumlichkeiten und die Verpflegung für die Superbowl-Party des Teams und sammelte Geld für Weihnachtsgeschenke an die Betreuer.
Streit geniesst die neue Verantwortung. Und er hat unlängst erfahren, was für eine Grösse er in ganz Nordamerika geworden ist: Die Spielergewerkschaft fragte ihn an, ob er als einer von 30 Profis an den Verhandlungen mit der Liga um den neuen Gesamtarbeitsvertrag (CBA) teilnehmen wolle. «Die Vorgänge interessieren mich sehr», sagt Streit. «Aber ich muss mir noch überlegen, welche terminlichen Verpflichtungen ich damit eingehen würde.»
Er selbst spielt um den nächsten Vertrag, seinen letzten grossen. Nächste Saison läuft sein Kontrakt aus, der ihm in fünf Jahren rund 20,5 Millionen Dollar eingebracht haben wird. Die Drohungen von einem möglichen Lockout hält er für Panikmacherei: «Das Business läuft gut, unser Sport ist populär. Ich habe das Gefühl, dass wir eine Lösung finden werden.» Allerdings muss auch er eingestehen: «Wir Spieler haben das letzte Mal schon so viel aufgegeben, wir haben einer Lohnobergrenze zugestimmt, haben 24 Prozent bei den Salären gekürzt. Es wäre unklug, wenn man das noch mehr ausreizen wollte.»
Freundschaft zu Niederreiter – trotz 15 Jahren Unterschied
Seine Erfahrungen zum CBA gibt Streit auch an Teamkollege Nino Niederreiter weiter: «Ich sagte ihm: ‹Du musst dich damit auseinandersetzen, es geht da auch um deine Zukunft. Es ist wichtig, dass du dir eine Meinung bildest und die Abläufe verstehst.›» Streit ist zum Mentor für den 19-jährigen Churer geworden. Auch eine gute Freundschaft ist trotz des Altersunterschieds entstanden, die beiden haben gar für kurze Zeit zusammengewohnt. «Unsere Eltern haben sich kennen und schätzen gelernt», sagt Streit. «Und wenn wir gerade keine Freunde oder Familie zu Besuch haben, unternehmen wir gemeinsam etwas.»
Den erstaunlichsten Gast empfing Streit erst vor kurzem: Seine 96-jährige Grossmutter Frieda kam extra für zwei Partien aus dem bernischen Jaberg angereist. «Sie musste zuerst einen Pass anfertigen lassen, da sie seit über 30 Jahren nicht mehr im Ausland war. Und in den USA sowieso noch nie», sagt Streit. Der NHLStar führte sie durch die Stadt, zeigte ihr den Times Square und den Central Park. Und am Abend, als sie auf dem grossen Videowürfel im Stadion vorgestellt wurde, sei sie unglaublich stolz auf ihren Enkel gewesen. «Sie hat immer gesagt: ‹Mark es ist jetzt Zeit für dich, heimzukehren›», erzählt Streit. «Doch nachdem sie hier gewesen war, meinte sie: ‹Ich begreife, dass du bleiben willst. Du hast es so schön.›»
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