- Offizieller Beitrag
«Es hat sich gelohnt, zu Beginn Dreck zu fressen» – wie sich Nino Niederreiter in der NHL nach oben gekämpft hat
Der Stürmer ist eines der Aushängeschilder im Schweizer Eishockey – und sorgt sich um dessen Zukunft. Derzeit spielt Niederreiter um einen neuen Millionenvertrag. Eine Begegnung.
Nicola Berger, Raleigh (NZZ)
Manchmal unternimmt Nino Niederreiter eine kleine Zeitreise, zehn Jahre zurück, und versetzt sich in seine erste echte NHL-Saison. In 55 Spielen für die New York Islanders gelang ihm ein einziges Tor, keine Vorlage, er spielte fünf, sechs, sieben Minuten pro Abend und zweifelte daran, ob er sich in dieser Liga durchsetzen kann. Niederreiter sagt: «Ich wurde an fünfter Stelle gedraftet. Da solltest du ab und zu einmal etwas zeigen. Aber ich begann mich zu fragen, was ich hier eigentlich mache.» Er, der zweieinhalb Jahre zuvor die Lehre in einem Heizung-Sanitär-Betrieb abbrach, um sich auf den Sport zu konzentrieren.
Eine Dekade später ist Niederreiter einer der bestverdienenden Schweizer Teamsportler der Geschichte, die Carolina Hurricanes entlöhnen ihn mit 5,25 Millionen Dollar pro Saison. Er ist hinter Roman Josi und Mark Streit der Schweizer mit den drittmeisten Partien und Skorerpunkten in der weltbesten Liga, inzwischen hat er allein in der Regular Season 667 Partien absolviert. Niederreiter lächelt und sagt: «Es hat sich gelohnt, zu Beginn Dreck zu fressen.»
Im Sommer läuft der Vertrag aus, das Pokerspiel mit dem jetzigen Arbeitgeber hat bereits begonnen, es gab erste Gespräche. Der General Manager Don Waddell sagt: «Wir wollen ihn behalten. Er ist ein wichtiger Teil dieses Teams. Sehr arbeitsam, anpassungsfähig, ein Leader eben.» Waddell sagt, er würde die Angelegenheit lieber heute als morgen regeln, sicher bevor Niederreiter im Juli auf den freien Markt gelangt. «Wir haben nicht viel Spielraum, was die Gehaltsobergrenze angeht. Je früher wir Klarheit haben, desto besser.»
Jagen mit Pfeil und Bogen
Niederreiter, 29, spielt in seinem vierten Jahr in Raleigh, er landete im Januar 2019 nach einem Tauschgeschäft mit Minnesota Wild in der Hauptstadt des Gliedstaates North Carolina, einer für amerikanische Verhältnisse beschaulichen Kleinstadt mit etwas weniger als 500 000 Einwohnern. Niederreiter fühlt sich wohl, er hat sich schnell integriert, er kann hier einem seiner Hobbys nachgehen: der Jagd.
Einmal erlegte er mit Pfeil und Bogen einen Weisswedelhirsch und verspeiste ihn am nächsten Tag, das Geweih hängt jetzt bei ihm zu Hause an der Wand. Eine unvergessliche Erfahrung sei das gewesen, sagt Niederreiter, er habe gleich mit dem ersten Pfeil getroffen. Schon sein Onkel sei in Graubünden zur Jagd gegangen, die Jagd hat im Heimatkanton Tradition. Heimat und Tradition – Niederreiter ist beides wichtig.
An einem Samstag im November sitzt er in Morrisville im Trainingszentrum der Hurricanes. Hoch oben über ihm ist ein Banner befestigt, auf dem Jaccob Slavin, der Abwehrchef des Teams, die Welt wissen lässt, dass er nicht die Bestätigung der Menschen suche, sondern jene Gottes; er sei ein «Diener von Jesus». Willkommen in North Carolina.
Niederreiter sagt, er würde gerne bleiben. Bei den Hurricanes und vor allem in der NHL. Bis 35 sieht er seine Zukunft hier. Er investiert einiges dafür. Im Sommer arbeitete er wie besessen daran, schneller zu werden. Er feilte an der Technik, am Material, monatelang. Er sagt: «Das Spiel wird immer schneller, ich muss mich anpassen.» Er könne nicht kleiner werden als seine 1 Meter 88. Aber leichter, wendiger, cleverer.
Stürmende Dynamik, verteilt auf 1 Meter 88 Körperlänge – das ist Nino Niederreiter.
Dave Reginek / Getty
Seit 2013 hat sich Niederreiter mit seinen Teams stets für die Play-offs qualifiziert, doch er wartet auf den grossen Wurf. Wenn er seinen nächsten Vertrag unterschreibt, wird es auch darum gehen: dass eine realistische Chance besteht, Meister zu werden.
Der Stanley-Cup ist das grosse Ziel des Jägers Niederreiter, jene Trophäe, die er wirklich begehrt. «Dafür machen wir das alles doch überhaupt. Man kann eine schöne Karriere haben, Geld verdienen und Auszeichnungen sammeln. Aber was zählt, ist der Stanley-Cup. Man muss nur schauen, wie viel zum Beispiel ein Spieler wie Joe Thornton opfert, um dieses Ziel endlich zu erreichen.»
Thornton, 42, den Niederreiter aus Davos gut kennt, hat sich im Herbst für 750 000 Dollar den Florida Panthers angeschlossen, der momentanen Nummer 1 der Liga.
Die Kreativität der Hurricanes
Niederreiter sagt, er sehe das Potenzial, mit Carolina den Titel zu gewinnen. Zwar ist Raleigh einer der kleinsten NHL-Märkte, doch es mangelt nicht an Geld und Kreativität. Der Besitzer Thomas Dundon ist Milliardär und stellt sicher, dass das Team gleich viel ausgeben kann wie die grossen, publikumsträchtigen Organisationen in New York, Philadelphia oder Montreal. Mike Forman, der Vizepräsident für Marketing und Markenstrategie der Hurricanes, sagt: «Wir werden nie gleich gross sein wie diese Teams. Aber das gibt uns die Freiheit, Dinge ein bisschen anders zu machen.»
Carolina ist inzwischen über die Eishockey-Nische hinaus dafür bekannt, Siege mit aussergewöhnlichen Gesten zu bejubeln – und ein Flair für findige Provokationen in den sozialen Netzwerken zu haben. Don Cherry, der inzwischen abgesetzte Doyen des kanadischen Hockey-TV, nannte die Hurricanes 2019 «a bunch of jerks», einen Haufen Idioten.
Die Organisation nahm das dankbar auf, die Beleidigung wurde zu einer Art inoffiziellem Team-Slogan, die eilig hergestellten Shirts mit dem Aufdruck verkauften sich prächtig. «Das hat uns viel Goodwill eingebracht», sagt Forman. «Wir wollen, dass die Leute einen Anreiz haben, ins Stadion zu kommen. Es soll nie die attraktivere Option sein, das Spiel am TV zu verfolgen.»
Das scheint zu funktionieren: Die Besucherzahlen steigen stetig, durchschnittlich kommen 16 700 Zuschauer an die Heimspiele. Wobei es hilft, dass das Team mit dem Trainer Rod Brind’Amour, einer Hurricanes-Klublegende und 2004/05 kurz im EHC Kloten engagiert, ebenso erfolgreich wie attraktiv spielt, ähnlich erfrischend aufmüpfig, wie sich der Klub im Internet gibt. Niederreiter sagt: «Wir spielen Ganz-oder-gar-nicht-Hockey. Es gibt keine halben Sachen. Du musst topfit sein, sonst reicht es hier nicht.»
In Morrisville ist es Mittag geworden, und Niederreiter schaut auf die Uhr. In wenigen Minuten spielt der EHC Chur in der dritthöchsten Schweizer Liga gegen Martigny, es ist ein Spiel, das Niederreiter nicht verpassen möchte. Seit kurzem ist er Vorstandsmitglied seines Stammklubs.
Sein Plan ist es, den Verein zurück ins bezahlte Eishockey zu bringen. «Chur hat ein Riesenpotenzial. Der Verband sollte ein Interesse daran haben, diesen Standort zu fördern. Es geht auch darum, dem Sport wieder mehr Junge zuzuführen. Dafür braucht es Aushängeschilder. In Chur hätte es für die Jugend eine Signalwirkung, wenn der EHC wieder oben mitspielt.»
Niederreiter mag seit 2009 in Nordamerika spielen, aber das hat seine Heimatverbundenheit eher noch verstärkt. Wenn er Chur im Spätsommer jeweils verlässt, dauert es nicht lange, bis ihn das Heimweh plagt. Er ist so etwas wie ein Klischee-Schweizer: bescheiden, freundlich, traditionsbewusst. Er begeistert sich fürs Schwingen, 2016 reiste er mit Freunden im Wohnmobil an das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest in Estavayer-le-Lac. Ein bisschen wirkt es, als wolle er in der kurzen Zeit, in der er sich jedes Jahr im Land befindet, so viel vom helvetischen Postkartenidyll aufsaugen wie nur möglich.
Bei seinem Stammklub EHC Chur ist Niederreiter nicht nur als Werbefigur präsent, er gehört seit kurzem dem Vorstand an.
Annick Ramp / NZZ
Auch die USA hat Niederreiter schätzen gelernt. Wenn man ihn fragt, was ihm an seinem Arbeitsort gefällt, entgegnet er: «dass hier jeder einen Traum hat. Irgendwas zu werden, zu erreichen. Ich finde das erfrischend, auch wenn längst nicht alle ihre Ziele erreichen. Aber es ist doch wichtig, eine Vision zu haben, auf etwas hinzuarbeiten.»
Dann fügt er an: «Und ich mag, dass es weniger Eifersucht gibt als in der Schweiz. Wenn du hier im Sport Geld verdienst und ein schönes Auto fährst, sagen die Leute: ‹Gut für ihn.› In der Schweiz heisst es eher: ‹Wieso hat er es nötig, einen dicken Wagen zu fahren?›»
Sinn für Visionen und Reformen
Aber die Heimat beschäftigt ihn stark, vor allem auch das Schweizer Eishockey, weit über den EHC Chur hinaus. Schliesslich ist er eines der Aushängeschilder der Nationalmannschaft. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass er 2013 und 2018 dabei war, bei jenen WM-Turnieren, an denen die Schweiz Silber gewann. Doch es bereitet Niederreiter Sorgen, dass in den letzten Jahren kaum mehr Schweizer gedraftet wurden, seit Nico Hischier 2017 an erster Stelle gezogen wurde.
Niederreiter sagt: «Im Nachwuchs haben wir in der Schweiz Steigerungspotenzial. Die Medaillen des Nationalteams und Erfolge von Spielern wie Roman Josi haben uns vielleicht ein bisschen geblendet. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht überholt werden, in Deutschland beispielsweise wird sehr gut gearbeitet.» Er holt weit aus und erklärt, wie seine Vision der National League der Zukunft aussehen würde: eine Aufstockung der Liga, eine Lohnobergrenze und keine Ausländerbeschränkung mehr. Es sind radikale Ideen, stark an die NHL angelehnt.
Niederreiter sagt: «Es ist nichts Schlechtes, wenn man als Schweizer um seinen Platz kämpfen muss. Man muss lernen, sich durchzusetzen.» Niederreiter tat das früh in Übersee, nach drei Einsätzen für den HC Davos wechselte er mit 17 in die Juniorenliga WHL nach Portland und machte sich dort einen Namen als eines der weltbesten Talente seines Jahrgangs. Er sagt, er würde diesen Werdegang, den frühen Wechsel in die Fremde, jedem empfehlen: «Es war eine sehr gute Schule, nicht nur, was das Hockey angeht. Man lernt viel und wird früh selbständig.»
Es braucht Reformen, da ist sich Niederreiter sicher. Vielleicht wird das seine nächste Zeitreise: jene in eine goldene Schweizer Hockey-Zukunft.