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«Ich bin als Coach besser als je zuvor»
Marc Crawford hat den Stanley-Cup gewonnen und Kanada am Olympiaturnier betreut. Trotzdem sagt er, er sei in Zürich als Coach noch einmal gewachsen. Interview: Daniel Germann, Ulrich Pickel
NZZ am Sonntag: In einer Woche beginnen die Play-offs. Wie gross ist Ihre Vorfreude?
Marc Crawford: Ich freue mich sehr. Die Ausgangslage ist sehr spannend, ganz anders als vor einem Jahr. In der vergangenen Saison standen wir schon Wochen vor dem Ende der Qualifikation als Sieger fest. Wir konnten uns ganz auf den Start der Play-offs konzentrieren. Diesmal ist alles viel enger. Bis kurz vor Schluss hatte praktisch kein Team seinen Platz auf sicher. Wir mussten uns deshalb auch viel breiter vorbereiten. Ich fühle in der ganzen Liga eine grössere Spannung als in der letzten Saison.
Man freut sich also selbst mit Ihrer Erfahrung, mit Ihren Erfolgen als Coach noch auf die Play-offs?
Natürlich. Sollte ich diese Vorfreude jemals verlieren, habe ich ein Problem. Die Emotionalität ist ein grosser Teil meiner Persönlichkeit. Bei uns in Kanada gibt es ein Sprichwort: Du kannst dich auf alles vorbereiten, aber die Leidenschaft trägt dich durch den Tag. Das gilt vor allem im Sport. Ohne Leidenschaft gibt es keinen Erfolg. Das hat mich die Erfahrung gelehrt, und sie lehrt es mich noch heute immer wieder.
Lassen sich die Play-offs hier in der Schweiz mit jenen in der NHL vergleichen?
Es ist überall ähnlich. Vielleicht ist es in der NHL noch eine etwas grössere Sache, die Play-offs zu erreichen. Dort qualifiziert sich ja nur die Hälfte der Teams für die entscheidende Meisterschaftsphase. Die Spannung spitzt sich schon gegen Ende der Qualifikation zu. Ich habe für Teams gearbeitet, die die Play-offs in der letzten Runde erreicht haben. Aber auch für solche, die sie im letzten Moment verpasst haben. Es waren sehr emotionale Momente.
Die ZSC Lions sind Titelverteidiger. Wie weit verändert das die Ausgangslage und das Spannungsmoment?
Es macht einen Unterschied. Es ist nicht dasselbe, ob man beweisen will, gewinnen zu können, oder ob man bereits gewonnen hat und nun den Sieg bestätigen muss. Als Titelverteidiger weiss man genau, was auf einen zukommt, was es braucht, um zu gewinnen. Das ist Teil der mentalen Herausforderung. Ist man noch einmal bereit, zu leisten, was es braucht, um zu gewinnen? Das ist kein übermächtiges Hindernis, aber es ist doch eine zusätzliche Herausforderung, die es zu überwinden gilt.
Es müsste doch eigentlich ein Vorteil sein, bereits zu wissen, was es braucht, um zu gewinnen. Trotzdem ist in der Nationalliga A seit 14 Jahren keinem Team mehr die Titelverteidigung gelungen.
Es ist sicher ein Vorteil, dass man weiss, was auf einen zukommt. Gleichzeitig weiss man ja auch, was es braucht, um das Ziel zu erreichen. Ich vergleiche es ein wenig mit einem Bergsteiger, der bereits zum vierten Mal denselben Gipfel besteigt. Wenn er sich von den Mühen der vorangegangenen drei Mal ablenken lässt, wird das Unterfangen schwierig. Wenn es ihm jedoch gelingt, sich Schritt für Schritt zu erinnern, was nötig war, um den Gipfel zu erreichen, dann kann er von dieser Erfahrung auch profitieren.
Was ist für einen Coach einfacher, ein erfahrenes, erfolgreiches Team oder ein unerfahrenes, dafür hungriges Team zum Erfolg zu führen?
Es ist immer einfacher, ein starkes Team zu führen. Es ist leichter, eine starke Gruppe dazu zu bringen, ihr Potenzial auszuschöpfen, als aus einer limitierten Gruppe ein Siegerteam zu formen.
Sie haben über den Hunger zu siegen gesprochen. Was können Sie als Coach dazu beitragen, dass der nicht verschwindet?
Als Coach kann man die Spieler nur immer wieder daran erinnern, was nötig ist, um zu gewinnen, ihren Ehrgeiz anstacheln. Doch der entscheidende Teil muss von ihnen selber kommen. Als Coach ist man der Leadership und den individuellen Charakteren im Team ausgeliefert. Die Gruppe muss aus sich heraus funktionieren. Es muss eine innere Selbstkontrolle geben. Die zu entwickeln, ist eine heikle Aufgabe. Wenn ich ein Patentrezept dafür hätte, würde ich wahrscheinlich nicht auf diesem Stuhl sitzen, sondern ein Weltunternehmen führen.
Wie würde Ihr perfektes Team aussehen? Oder anders gefragt: Was ist das Wichtigste, damit man Erfolg hat?
Man braucht zuerst einmal einen starken Torhüter. Ich bin überzeugt, dass der Goalie entscheidet, wie gross das Selbstbewusstsein eines Teams ist. Daneben braucht es aber auch die richtige Balance zwischen Talent und Kampfbereitschaft. Ohne die ist jeder noch so begabte Spieler nutzlos. Und dann braucht es, wie gesagt, die richtigen Charaktere, die sich gegenseitig antreiben.
Sie hatten bei den Colorado Avalanche ein solches Team, mit dem Sie 1996 den Stanley-Cup gewannen. Patrick Roy stand im Tor, daneben gab es gleich mehrere herausragende Spieler wie Joe Sakic oder Peter Forsberg. Wie viel anders ist Ihre Arbeit in Zürich als mit Colorado?
Man kann das nicht vergleichen. Patrick Roy ist einer der drei besten Torhüter, die es jemals gegeben hat. Es wäre unfair, irgendjemanden mit ihm zu vergleichen. Aber es stimmt: Ich hatte damals eine starke Gruppe aussergewöhnlicher Persönlichkeiten, von denen man nicht unbedingt gesprochen hat - Claude Lemieux, Mike Keane, Alan Deadmarsh. Sie wussten, wie man gewinnt. Wir haben hier in Zürich ähnliche Qualitäten: Mathias Seger ist einer der besten Leader, mit denen ich je zusammengearbeitet habe. Gemessen an seiner Persönlichkeit steht er auf einer Stufe mit den Namen, die ich genannt habe. Deshalb habe ich ihn nun, da er verletzt ist, auch auf die Spielerbank geholt. Seger hat eine grossartige Ausstrahlung, die uns hilft. Es gibt aber auch andere: Severin Blindenbacher, Patrik Bärtschi oder Morris Trachsler. An ihnen können andere Spieler wachsen.
Sie haben dort eine Art Weltauswahl gecoacht und mit ihr den wichtigsten Titel gewonnen, den es im internationalen Eishockey gibt. Wie motiviert man sich da überhaupt, wieder ein normales Team zu führen?
Es gab sehr viel andere gute Teams damals. Die Detroit Red Wings beispielsweise. Sie waren herausragend. Wir haben in der Qualifikation gegen sie damals gleich 0:7 verloren und sind danach im Halbfinal auf sie getroffen. Wir hätten allen Grund gehabt, uns vor ihnen zu fürchten. Doch wir hatten damals einen Spieler wie Patrick Roy in der Kabine. An der ersten Medienkonferenz nach dem Transfer aus Montreal sagte er: «Ich bin hier, um den Stanley-Cup zu gewinnen.» Die anderen Spieler hörten mit offenem Mund zu. Darum geht es: daran zu glauben. Sie haben zuvor selber erwähnt, dass in den vergangenen Jahren in der Schweiz nur drei oder vier Teams Titel gewonnen haben. Das hat viel mit den Persönlichkeiten zu tun, die diese Teams repräsentiert haben. Die Herausforderung bleibt überall die gleiche.
Wie macht man Spieler besser?
Man muss mit den Spielern kommunizieren, ihnen immer wieder ein Feedback geben und darauf hoffen, dass sie mit Lob und Tadel umgehen können und daraus lernen. Spielintelligenz oder, wie wir es im Eishockey nennen, Hockey Sense ist ein wichtiger Bestandteil. Dieser Sinn für das Spiel, die Gabe, vorauszuahnen, was als Nächstes passiert, kann man nicht lehren. Er entwickelt sich mit der Wettkampferfahrung.
Gerade in der NHL wird zwischen Trainer und Spielern aber wenig kommuniziert. Ist das etwas, was Sie hier in Europa gelernt haben?
Es stimmt, dass in Europa mehr mit den Spielern gesprochen wird. Das hat damit zu tun, dass wir hier mehr Zeit zum Trainieren haben. In der NHL sind die Reisestrapazen derart gross, dass es in erster Linie darum geht, den Spielern genügend Erholung zu verschaffen. Sie sind bereits mental ausgelaugt; man will sie also nicht noch mit Trainings zusätzlich physisch auslaugen. Ich habe hier viel mehr Zeit und Gelegenheit, mit meinen Spielern eine Beziehung aufzubauen. Hier ist der Job als Coach viel ursprünglicher, unverfälschter als in der National Hockey League. Ich kenne meine Spieler in Zürich wahrscheinlich besser als alle anderen, mit denen ich in der Vergangenheit zusammengearbeitet habe. Falls ich nochmals eine Chance erhalten sollte, ein NHL-Team zu coachen, werde ich versuchen, diese Erfahrung mitzunehmen.
Wie reagierte Ihr Umfeld, als sie sich entschlossen, Ihre Trainerkarriere in Europa fortzusetzen?
Ich habe es nur mit meiner Frau besprochen. Der Moment war richtig: Die Kinder waren ausgezogen, und wir fragten uns wie wahrscheinlich so manches Paar an diesem Punkt im Leben: Und wir? Was machen wir jetzt noch? Es gab nichts, was uns zurückhielt. Für mich war es eine hervorragende Gelegenheit, etwas Neues zu tun.
Vor zehn Jahren wäre noch unvorstellbar gewesen, dass ein Coach, der einen Stanley-Cup gewonnen hat, einen Job in der Schweiz annimmt. Was hat sich verändert?
Dave King ist einer der besten Coachs, die Kanada jemals gehabt hat. Und er ist unentwegt gereist: Er hat in Russland gearbeitet, in Japan. Es werden noch mehr kommen. Ich weiss, dass Europa viele Trainer in Nordamerika reizt. Einer musste einfach einmal damit anfangen und den Sprung wagen. Denn es gibt ja auch immer Überlegungen und Bedenken, die nichts mit dem Eishockey, sondern mit der Familie zu tun haben.
Haben die Erfahrungen in Europa Sie zu einem besseren Coach gemacht?
Wie ich schon gesagt habe: Ich habe mich wieder mehr auf die ursprüngliche Arbeit des Coachens konzentrieren können. Ich habe mich aber auch technisch und taktisch weiterentwickelt. Ich habe in diesem Laboratorium hier die Gelegenheit erhalten, meine Ideen auszuprobieren. Ich denke, ich bin heute als Coach besser als je zuvor.
Trotzdem haben Sie nie verhehlt, dass die NHL in Ihrem Kopf bleibt. Spätestens nächsten Sommer wird eine Rückkehr garantiert wieder zum Thema werden.
Ich gebe zu: Ich möchte immer das Beste erreichen, was für mich möglich ist. Dafür werde ich mich auch nie entschuldigen. Vielleicht erhalte ich noch einmal eine Gelegenheit, in der NHL zu arbeiten. Ich mache mir aber nicht allzu grosse Gedanken darüber. Ich weiss zu schätzen, was ich hier habe: Die Lions sind eine hervorragende Organisation. Die ganze Führung ist auf einer Wellenlänge. Das ist nicht selbstverständlich. Ich werde das nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Ich habe in der NHL gearbeitet, und ich habe Erfolg gehabt. Das nimmt mir niemand mehr.
Würde ein weiterer Titel in Zürich Ihre Chancen verbessern, in die NHL zurückzukehren? Oder ist das dort nicht so wichtig?
Gewinnen ist immer wichtig. Aber am Ende zählen vor allem die Verbindungen. Ich mache mir keine falschen Vorstellungen: Wenn mir ein Job in der NHL offeriert wird, dann deshalb, weil es dort jemanden gibt, der mich gut findet. Ein weiterer Titel hier in Zürich würde ihm dann möglicherweise die Aufgabe erleichtern, sich für mich starkzumachen.
Geben Ihnen die Erfahrungen als Stanley-Cup-Sieger und als Coach des kanadischen Olympiateams 1998 in Nagano die Freiheit, allem gelassen entgegen zu blicken?
Nein, es gibt mir vielleicht Erfahrung. Und die ist fraglos wichtig in diesem Job. Gleichzeitig zählt aber auch der Instinkt. Ich habe als junger Coach instinktiver reagiert. Man kann Dinge auch zu stark überdenken. Es ist alles eine Frage der Balance. Zu entscheiden, wann man sich auf die Erfahrung verlassen und wann man seinem Instinkt folgen soll, macht diesen Job so faszinierend.