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Alles für das Spiel
Wenn er redet, ist Auston Matthews weit weniger spektakulär, als wenn er Eishockey spielt. Das spricht allerdings nicht gegen den 18-Jährigen. Von Ulrich Pickel
Das Mannschaftstraining ist beendet, die Spieler verschwinden in Richtung Garderobe. Ein paar absolvieren zusätzliche Übungen. Einer legt sich eine lange Reihe aus Pucks zurecht, dazwischen jeweils etwa 50 Zentimeter Abstand. Er nimmt einen Puck und dribbelt damit um die anderen herum wie in einem Slalom. Dies wiederholt er x-mal, das Tempo allmählich steigernd. Der Puck, den er führt, scheint am Stock zu kleben. Er verliert ihn nicht ein Mal.
Nach den Slalomläufen steht Auston Matthews schwitzend und dampfend da und sagt: «Ich habe hier mit Marc Crawford einen Trainer, der die NHL kennt und genau weiss, was mich in Zukunft erwartet. Ich kann mich optimal auf die Zukunft vorbereiten.» So ist er immer, wenn er spricht: nüchtern, ganz auf die Arbeit bezogen. Matthews war ein gelehriger Schüler, als Medienexperten ihm im amerikanischen Nachwuchsprogramm den professionellen Umgang mit der Öffentlichkeit beibrachten. Wer einen US-Teenie mit übergrossem Ego erwartet, der das Herz auf der Zunge trägt, wird enttäuscht. Wenn man ihm sagt, dass er mit der Abgeklärtheit eines 30-Jährigen auftrete, gibt er zur Antwort: «Danke für das Kompliment, das ist sehr nett.»
Über Privates gibt Matthews so viel Auskunft wie nötig und so wenig wie möglich. Anfragen für Homestorys werden abschlägig beantwortet. Ein paar Dinge immerhin sind bekannt: dass er sich im Team mit den vielen Jungen wohl fühlt. Ebenso, dass der Strassenverkehr wegen der vielen Schilder und Ampeln viel komplizierter ist als zu Hause. Und wenn er in die Stadt geht, kann er dies in Ruhe tun. «Ich werde kaum erkannt auf der Strasse, das ist angenehm.»
Matthews, am 17. September 18 Jahre alt geworden, stammt aus Arizona. In dieser Saison lebt er mit der Mutter ausserhalb von Zürich. Sie ist gebürtige Mexikanerin, der Vater Kalifornier. Er kommt pro Monat eine Woche in die Schweiz, am Anfang waren auch die beiden Schwestern länger zu Besuch. Es hat Versuche gegeben, die klassische Tellerwäscher-Story zu konstruieren mit der Mutter, die extra eine zweite Stelle angenommen habe, um das teure Hobby zu finanzieren. Doch Matthews sagt: «Es ist in den USA ganz normal, dass jemand zwei Jobs hat.» Er lebt in einer intakten Familie aus der amerikanischen Mittelklasse. Nicht mehr und nicht weniger.
«Ich bin hier, um jeden Tag ein bisschen besser zu werden», sagt er oft. Er nimmt diese Worte, die wahrscheinlich jeder Sportler schon gesagt hat, sehr ernst. Denn er sagt auch: «Ich habe immer alles daran gesetzt, dass aus dem Eishockey eine Karriere wird.» Nur aus Spass und Zeitvertreib habe er nie gespielt. «Jedes Mal, wenn ich in der Garderobe bin, geht er entweder noch in den Kraftraum oder kommt von dort», sagt der Sportchef Edgar Salis. Und wen man auch sonst fragt bei den ZSC Lions, vom Trainer über die Mitspieler bis zum Betreuer, alle beschreiben ihn gleich: fleissig, bescheiden, ruhig. Es gab anfangs die leise Befürchtung, Matthews' Anwesenheit könnte intern für Unruhe sorgen, weil sich das ganze Interesse nur noch auf ihn richten würde. Das hat sich bis jetzt nicht bewahrheitet. Der Vater, so ist zu hören, erkundigt sich regelmässig, wie sich sein Sohn benehme. Im August, wenige Tage nach der Ankunft in der Schweiz, sagte er: «Es ist wichtig, dass Auston hier gut spielt. Genauso wichtig ist mir aber, dass er sich anständig aufführt.»
Ron Wilson, Matthews' Trainer in der amerikanischen U?20, brachte es auf den Punkt, als er sagte: Die Fähigkeit, sich total auf seine Aufgabe zu konzentrieren und alles andere auszublenden, sei wahrscheinlich Matthews' grösstes Talent. Zusammen mit seiner Spielintelligenz, seinem Auge, seinen Händen, der Art, wie er schiesst, Pässe spielt und Scheiben ablenkt, ist dieser Musterschüler eine ziemlich reizvolle Mischung. Seine Saison in der Schweiz ist die erste als Profi und die letzte vor dem Sprung in die NHL. In 28 Meisterschaftsspielen hat der offensive Center und jüngste Ausländer, der bisher in der Nationalliga A spielte, 21 Tore geschossen - so hat noch nie ein Teenager reüssiert. Dass er im Juni als Nummer 1 gedraftet werden wird, bezweifelt kaum jemand. Die Idee, ihn in der offensiv ausgerichteten Schweizer Liga gegen Profis statt nochmals in Nordamerika gegen Junioren oder in einem College-Team spielen zu lassen, bevor es richtig losgeht, hat sich als gelungener Schachzug seiner Berater erwiesen. Neben den Eltern sind sie die wichtigsten Bezugspersonen.
Wer Matthews nur über seine Statements definiert, könnte ihn auf den ersten Blick als wenig beeindruckende, leicht unfassbare Figur wahrnehmen. Doch allein dieser oberflächliche Eindruck würde ihm nicht gerecht. Mit seiner kontrollierten Aussendarstellung beweist er vielmehr, dass er begriffen hat, wie die Welt funktioniert, in der er lebt. Es ist nicht die gleiche Welt, in der sich die anderen Spieler der Nationalliga A befinden.
Matthews weiss: Wenn sich nicht alles gegen ihn verschwört, wird er bald viele Millionen verdienen. Was immer er als potenzieller Nummer-1-Draft tut, wird genau beobachtet und kommentiert werden, in Nordamerika weit mehr als in der Schweiz. Matthews weiss auch, dass er mit seiner Ziehung höchste Erwartungen wird erfüllen müssen. Doch das scheint ihm nicht den Kopf verdreht zu haben. Er beeindruckt mit all dem, was er nicht sagt, weil es ihn in seiner Zielstrebigkeit nur ablenken könnte. Es ist deshalb unterhaltsamer, sich der Figur Matthews zu nähern, wenn man nicht nur den Weg über dessen Worte wählt. Man kann ihm einfach bei der Arbeit zuschauen. Als Spieler ist er überhaupt nicht unfassbar. Dafür immer wieder unfassbar gut.
Das Wunderkind und der Autowäscher
Risiko statt Tradition gewählt
In der Erfolgsgeschichte Auston Matthews bei den ZSC Lions spielt der Agent Patrice Brisson eine entscheidende Rolle. Der Kanadier brachte die Idee eines Wechsels in die Schweiz bereits vor der U-18-WM im Frühjahr 2015 in Zug und Luzern erstmals vor, der Mittelsmann Doug Honegger stellte den ersten Kontakt zur ZSC-Organisation her. Brisson sagt: «Wir hatten für Auston die traditionellen Optionen: ein Jahr im College oder in der WHL. Aber Zürich war eine aufregende Möglichkeit. Nach einer Visite der Familie stand der Entscheid praktisch fest.»
Brisson sagt das, und er fügt hinzu, in seinem Geschäft müsse man immer offen sein für neue Ideen, für das Unorthodoxe. Man könnte das leicht als PR-Geschwätz abtun, doch das wäre ungerecht. Der 51-Jährige redet aus eigener Erfahrung. Denn seine Lebensgeschichte liest sich wie eine Hollywoodfabel.
In den 1980er Jahren hat Brisson einen Traum, er will es zum NHL-Profi bringen. Als rechter Flügelstürmer rasselt er bei den Montreal Canadiens jedoch gleich zweimal durch ein Probetraining, und im Sommer 1987 gesteht er sich sein Scheitern ein. Er zieht nach Kalifornien, wo sein Jugendfreund Luc Robitaille mit den Los Angeles Kings gerade die NHL aufmischt. Damit lässt er sich auf ein Abenteuer voller Hindernisse ein, denn als der Kanadier an der Westküste ankommt, spricht er kein Englisch. Begleitet er seine Freunde ins Kino, weiss er nicht, warum sie lachen, denn er versteht die Dialoge nicht. Um sich den Unterhalt zu finanzieren, beginnt er in einer Autowaschanlage zu arbeiten, zu fünf Dollar die Stunde. Nebenbei beobachtet er mit wachsender Faszination, wie aus der Traumfabrik Los Angeles nicht nur Filmhelden sondern auch Sportgrössen erwachsen, wie Personenkulte entstehen.
Baseball-Profis eröffnen Autoausstellungen, eine Schuhfirma sponsert einen Basketballspieler. Das eröffnet Möglichkeiten. Brisson beginnt, seinen Freund Robitaille zu vermarkten, bald folgt Mario Lemieux, und ehe Brisson sich versieht, ist er Agent. Sein Aufstieg ist steil, er betreut heute unter anderen Sidney Crosby, Patrick Kane und John Tavares. «Sports Illustrated» zählt ihn zu den zehn einflussreichsten Persönlichkeiten der NHL. Dass auch Auston Matthews sich seiner Faszination nicht entziehen konnte, ist nachvollziehbar. Matthews stammt aus Scottsdale, Arizona, und US-Amerikaner lieben diese Urversion des amerikanischen Traums, wenn Tellerwäscher zu Millionären aufsteigen. Auch dann, wenn diese einst Autos schrubbten.Nicola Berger