Anstatt ewig über die längst vergangengen Massnahmen zu diskutieren, welche Meinung jeder einzelne hatte, Konjunktive anzuwenden wie es wann anderes gewesen wäre (was eh keiner weiss..) mal was anderes:
Im Dezember kam ein Interview mit Frank Urbaniok im Tagi Abo wo es mehr um den Umgang mit allem geht. Ich für mich kann da viel mehr mitnehmen, als mich ständig über etwas aufzuregen (und zwar funktioniert das beidseitig, egal über was man sich aufregt.) Ich kann weder Massnahmen beinflussen, noch kann ich Menschen beinflussen die meiner Meinung nach zu wenig machen, aber ich kann versuchen das ganze ein bisschen pragmatisch zu sehen.
«Wir sind als Gesellschaft nicht mehr sehr stressresistent»
Der Psychiater ist spezialisiert auf Aggressionen und erklärt, weshalb die Gereiztheit rasant zunimmt.
Zahlreiche Unternehmen schildern, dass ihre Kundschaft zunehmend gereizt ist. Was genau sorgt für diese Covid-Wut?
Der Nährboden dafür wurde lange vor Corona gelegt. Die Stimmung in der Gesellschaft ist seit langem aufgeheizt, es herrscht eine eigentliche Empörungsbewirtschaftung. Das führt zu Angespanntheit und erhöhter Reizbarkeit. Und das wiederum dazu, dass Respekt und Normen verloren gehen.
Was meinen Sie damit?
Tabus werden immer öfter verletzt. Der Respekt gegenüber Institutionen hat abgenommen, aktiv geschürt durch politische Parteien. Das hat Auswirkungen: Auf einmal tun breite Bevölkerungskreise Dinge, die früher undenkbar gewesen wären. Die Grenzen dessen, was als akzeptabel gilt, geraten ins Rutschen.
Haben Sie ein konkretes Beispiel dafür?
Vor 15 Jahren gab es aus den USA erste Berichte, dass Feuerwehrleute und Sanitäter beim Ausüben ihrer Tätigkeit angegriffen würden. Wir fanden das damals unvorstellbar. Heute sind diese Angriffe auch bei uns Realität. Das zeigt, wie sich Normen auflösen. Es gibt immer mehr Leute, die sich darüber hinwegsetzen, weil sie finden: Regeln und Normen gelten für uns nicht.
Zitat«Es wird zum ständigen Lebensgefühl, sich zu empören, und bekommt etwas Identitätsstiftendes.»
Aber warum?
Wir leben in einer Zeit der Superlative. Wir sind mit dem Internet und den sozialen Medien einer Tendenz zur Emotionalisierung und Skandalisierung ausgesetzt, die es so noch nie gab. Die Überflutung mit entsprechenden Reizen hat Folgen. Sie macht viele Menschen empfänglich für Polarisierungen nach dem Motto Schwarz-Weiss, Entweder-Oder, Freund-Feind. Die Wahrnehmung wird dadurch auf Extreme und absolute Dogmen trainiert. Es wird zum ständigen Lebensgefühl, sich zu empören, und bekommt etwas Identitätsstiftendes. Viele Leute spüren sich dann besonders intensiv, wenn sie wütend sind.
Wie geht man klug mit Wut um?
Gesunde Wut ist ein klares Zeichen dafür, dass subjektiv eine Grenze überschritten wurde. Deshalb sollte man sie nicht ignorieren oder runterschlucken, sondern reflektieren. Im Idealfall kann daraus sogar etwas Konstruktives entstehen, wenn man sich zum Beispiel bewusst wird, dass einen eine Bemerkung des Arbeitskollegen verletzt hat und das dann anspricht.
Wann kippt es ins Ungesunde?
Wenn die Wut zu intensiv erlebt wird und/oder lange anhält. Dann richtet sie Schaden an. Deshalb ist es wichtig, sich nicht reinzusteigern. Sondern zu sagen: Das Leben geht weiter.
Sind Sie selbst derart gelassen?
Ich bin tatsächlich sehr selten richtig wütend. Trotzdem empfinde ich natürlich gewisse Dinge als ungerecht, frustrierend oder ärgerlich, und sie lösen etwas aus in mir. Ich ärgere mich aber nicht im Stillen, sondern frage mich meist: Was kann ich dagegen tun? Deshalb bin ich zum Beispiel in den sozialen Medien aktiv. Ich verharre auf diese Weise nicht im Negativen, sondern mache was draus.
Zitat«Wenn die Mutation in einem halben Jahr mit einem Mal so tödlich wäre wie Ebola, dann ist das, was wir in den letzten zwei Jahren erlebt haben, Kindergarten dagegen.»
Aber gegen ein Virus kann man nichts ausrichten, das sorgt ja gerade für dieses Ohnmachtsgefühl. Wo soll man da mit der Wut hin?
Wir können das Virus nicht aus der Welt schaffen, stimmt. Ohnmächtig sind wir aber nur, wenn man die Sache absolut sieht. Und je absoluter man etwas betrachtet, desto mehr entfernt man sich von einer konstruktiven Lösung.
Was ist denn eine konstruktive Lösung für Wut angesichts von Corona?
Indem man relativiert. Corona ist nervtötend und gefährlich, ja. Aber wenn die Mutation in einem halben Jahr mit einem Mal so tödlich wäre wie Ebola, dann ist das, was wir in den letzten zwei Jahren erlebt haben, Kindergarten dagegen. Dann sind das fast schon paradiesische Zustände. Solche Vergleiche helfen, um die Situation nüchtern einzuordnen.
Also mehr Pragmatismus?
Richtig. Die Situation ist mühsam, für alle. Aber anstatt sich am Virus oder den Massnahmen abzuarbeiten, sollte man sich besser darauf einstellen. Das fällt uns aber offenbar schwer, weil wir als Gesellschaft nicht mehr sehr stressresistent sind.
Geht es uns zu gut?
Das ist zweifellos der Hauptgrund. Wir haben diesen absoluten Anspruch, dass immer alles perfekt sein muss, funktionieren muss. Tut es das nicht, reagieren wir gereizt. Dabei ist es doch so: Für Millionen von Menschen sind Infektionskrankheiten eine Realität, sie müssen ganz selbstverständlich mit Massnahmen umgehen. Wir sind deswegen gleich extrem gestresst, empfinden auch geringe Einschränkungen als ungeheuerliche Zumutung.
Wenn man jetzt nicht so begabt ist für Pragmatismus: Was kann man tun, um sich wenigstens etwas abzugrenzen?
Der erste Schritt besteht darin, sich überhaupt bewusst zu werden, dass das, was man fühlt, Wut ist und dass Wut kein Dauerzustand sein sollte. Als zweiter Schritt hilft, darüber zu reden. Alles weitere ist eine Frage der Einstellung: Will man sich dauernd empören und miteinstimmen in den Chor, der einmal mehr alles eine Katastrophe findet, oder geht man spazieren, liest ein Buch oder wendet sich anderen positiven Dingen zu?
Zitat«Es ist eine kolossale Fehlüberlegung zu meinen, dass Wut weggeht, wenn man nur lange genug auf die, die wütend sind, eingeht. Das Gegenteil ist der Fall.»
Wie lässt sich diese ungute Entwicklung stoppen?
Es ist zu hoffen, dass uns das gelingt, denn sie sollte uns Sorgen machen. In Südamerika ist Bandenkriminalität eine brutale Realität des Alltags. Auch das war früher weit weg, heute ist diese Form von Gewalt in den Niederlanden und in Schweden angekommen. Unser gesellschaftliches Konstrukt ist viel fragiler, als viele meinen, es ist nicht in Stein gemeisselt und für alle Ewigkeit garantiert. Wir täten gut daran, wieder zu lernen, dass die Dinge selten schwarz-weiss sind. Das auch auszuhalten und mit unserem Gemeinwesen sorgsam umzugehen.
Apropos aushalten: Wäre die Gereiztheit kleiner, wenn die Politik rigoroser durchgegriffen hätte, also zum Beispiel von Anfang an auf eine Impfpflicht gesetzt hätte?
Absolut. Wir haben in vielen demokratischen Ländern ein Führungs- und Entscheidungsproblem. Es mag unpopulär tönen, aber klare Ansagen sind wichtig, sie sorgen für Orientierung. Es ist eine kolossale Fehlüberlegung zu meinen, dass Wut weggeht, wenn man nur lange genug auf die, die wütend sind, eingeht. Das Gegenteil ist der Fall. Gegen jene, die wütend sein wollen, können Sie nicht viel ausrichten. Aber die anderen, die Trittbrettfahrer, die sich davon anstecken und mitreissen lassen, könnte man ins Boot holen. Dass die Politik eine Impfpflicht anfangs kategorisch ausgeschlossen hat, war eine bequeme, aber sehr unkluge Aussage.