Voll im Flow: Der EHC Biel ist mithilfe eines ungarischen Psychologen erwachsen geworden
Der Trainer Antti Törmänen greift tief in die Trickkiste, erinnert seine Spieler an die Weisheiten von Mihaly Csikszentmihalyi. Und bringt damit den Flow ins Bieler Spiel zurück. Am Donnerstag kommt es in Genf zur «Belle».
Am Tag, an dem der EHC Biel nicht verlieren durfte, sahen die Spieler, wie Mitarbeiter von Swiss Ice Hockey in der Tissot-Arena sicherheitshalber schon einmal die Bühne für eine mögliche Pokalübergabe an Genf/Servette aufbauten. Ablenkung war im Bieler Lager willkommen, und weil Antti Törmänen, dieser smarte Trainer mit dem feinen Sinn für Symbolik, das wusste, liess er seine Schützlinge erst einmal ein Spiel absolvieren.
Nicht auf dem Eis, sondern in der Kabine: Hangman, «Galgenmännchen». Ein Spiel, bei dem man einen Begriff erraten muss. In möglichst wenigen Anläufen; für jeden falschen Buchstaben wird ein weiterer Strich des Galgens gezeichnet. Die Denkaufgabe ist zu Ende, wenn ein Strichmännchen am Strick hängt. Oder die Lösung gefunden ist.
Törmänen stellte die Belegschaft am Dienstag vor eine knifflige Aufgabe. Das Lösungswort bestand aus 16 Buchstaben, die in ihrer Aneinanderreihung nicht jedem auf Anhieb geläufig sind: Csikszentmihalyi. Der 2021 verstorbene Mihaly Csikszentmihalyi war ein ungarischer Psychologe, er ist jener Mann, der als führender Forscher hinsichtlich jenes Gefühls gilt, das heute als Flow bekannt ist. Den Zustand des Aufgehens in einer Tätigkeit, in dem eine Person sich selber und die Zeit vergisst – eine Art natürlicher Rausch.
Csikszentmihalyi war am Dienstag das Opus magnum der Trainerkarriere von Antti Törmänen
Es ist dieses Gefühl, das den EHC Biel über weite Strecken dieser Saison getragen hat. Und das dem Kollektiv abhandenkam bei den Niederlagen in den Spielen Nummer 4 und 5 in diesem Final; Flow, das ist ein ebenso flüchtiges wie kostbares Gut. Csikszentmihalyi, das war die Idee, sollte den Flow zurückbringen, und na ja, wer denn sonst als der anerkannteste Experte auf diesem Gebiet?
Ein Eishockeyteam besteht in der Regel nicht aus Männern, die ihre Freizeit damit verbringen, wissenschaftliche Dissertationen zur menschlichen Psyche zu durchforsten. Biel ist in dieser Hinsicht ein Spezialfall, der Stürmer Luca Cunti absolviert ein Fernstudium in Psychologie.
Es brauchte trotzdem ein paar Anläufe; Törmänen liess Nachsicht walten, als es darum ging, das Galgenmännchen fertig zu zeichnen. Aber am Schluss fanden seine Spieler zuerst die Lösung. Und dann, im Spiel, tatsächlich den Flow. Was auch immer der EHC Biel seinem Coach bezahlt: Es ist zu wenig. Was Törmänen, 52, am Dienstag ablieferte, war nicht weniger als sein persönliches Opus magnum in der Sparte Motivationskniffe.
Der Coach hat auch sonst an all den richtigen Schrauben gedreht. Er untersagte seinen Spielern für den Montag den Besuch der Eishalle. Sie sollten ihren Kopf frei kriegen, an etwas anderes als an Eishockey und diese vielleicht einmalige Chance auf einen Titel denken.
Es lief am Dienstag zunächst wenig für Biel: Rückstand nach 13 Minuten, dazu der Ausfall von Damien Brunner noch im ersten Drittel – die Muskelverletzung des Stürmers brach wieder auf. Doch Biel siegte trotzdem 4:2, es liess sich nicht beirren und komplettierte ein furioses Comeback.
Es gab eine Zeit, da hätte Biel sich von den Widrigkeiten nicht mehr erholt. Das Kollektiv stand im Ruf, in Schönheit zu sterben. Und zu keiner Reaktion in der Lage zu sein, wenn es einmal nicht läuft. Aber der Verteidiger Robin Grossmann sagt: «Wir sind reifer geworden.» Und dann fügt er an: «Diese Mannschaft ist erwachsen geworden.»
Die emotionalisierte Bieler Mannschaft spielt nicht zuletzt für ihren krebskranken Trainer
Ein Schlüsselerlebnis im Reifeprozess des EHC Biel waren die verlorenen Play-off-Viertelfinals gegen die ZSC Lions vom April 2022. Biel führte in jener Serie mit 3:2 Siegen. Und unterlag am Ende doch. Der Stürmer Mike Künzle sagt: «Wir haben damals Lehrgeld bezahlt. Ich glaube, im Unterbewusstsein hat das einiges ausgelöst. Wir spielen jetzt abgeklärter und gehen weniger Risiko ein.»
Der Lohn für diese Entwicklung ist eine «Belle» am Donnerstag in Genf. Csikszentmihalyis Standardwerk heisst: «Flow: Das Geheimnis des Glücks». Aber im Play-off ist der Flow natürlich vor allem das: ein Mittel zum Zweck beim Streben nach dem ganz grossen Coup. Der Meistertitel als höchste Form der Glückseligkeit.
Törmänen werden bestimmt die richtigen Worte und Gesten einfallen, um seine Mannschaft auf das Entscheidungsspiel einzuschwören. Aber möglicherweise wird das gar nicht nötig sein. Der Abwehrspieler Grossmann sagt, seit der erneuten Krebsdiagnose bei Törmänen, die unmittelbar vor dem Play-off-Start publik wurde, spiele die Mannschaft nicht mehr nur für persönliche Meriten: «Unser Antrieb ist es, Antti zum Lächeln zu bringen. Das ist das Mindeste, was wir tun können.»
Als Meister lacht es sich leicht und enthemmt, es fehlt nur noch ein Sieg. Für den Favoriten Genf/Servette stellt dieser emotionalisierte EHC Biel eine Gefahr dar. Jetzt, wo er den Flow wiedergefunden hat, sowieso.